«BuchZeichen» macht Lust aufs Lesen, ist Rettungsring im Büchermeer und bietet gute und intelligente Unterhaltung. «Buchzeichen» stellt Autoren und Büchermenschen vor, erzählt Geschichten aus und über Bücher oder gräbt Perlen aus: Vom Bestseller über die Sportlerbiographie, vom Reisebericht bis zum Klassiker hat alles Platz.
Aktuelle Buchempfehlungen: Thomas Strässle und Daniela Krien
Auf dem Literaturstammtisch liegen heute zwei Bücher, die von der Macht der Liebe erzählen. In «Fluchtnovelle» geht es um zwei junge Menschen, die für ein gemeinsames Leben alles riskieren. In «Mein drittes Leben» um eine trauernde Mutter, die langsam ins Leben zurückfindet.
1965 verlieben sich in Berlin ein Student aus der Schweiz und eine Studentin aus der DDR ineinander. Der Eiserne Vorhang verhindert ihr Zusammenleben. Was tun? Thomas Strässle schafft es, in einer Mischung aus historischer Präzision und erzählerischem Reichtum einen packenden Krimi zu schreiben. Ohne Tote und ohne Action, aber mit viel Spannung und einem Happy End. Es ist die wahre Geschichte seiner Eltern. Das wirkt so einfach und ist doch so clever und überzeugend erzählt, findet Markus Gasser.
Der tödliche Unfall der 17-jährigen Tochter reisst Linda aus ihrem Leben. Ihre Arbeit als Kuratorin einer Kunststiftung, ihre Ehe mit einem Maler, ihr schönes Leben in einer grosszügigen Altbauwohnung, alles verliert seinen Sinn. Zurück bleiben Schlaflosigkeit und bodenlose Trauer. Bis sich auf einem Hof im Niemandsland, auf den sich Linda zurückzieht, eine ganz langsame Besserung einstellt und Linda Schritt für Schritt ins Leben zurückfindet. Ein erschütterndes Buch, einzigartig in seiner Tiefe und hoffnungsstiftend zugleich, sagt Literaturredaktor Michael Luisier, der Daniela Kriens neuen Roman in die Sendung mitbringt.
Das Buch im heutigen Kurztipp bietet inspirierende Denkanstösse, findet Britta Spichiger. Es heisst «Alle Weisheit dieser Welt ist schon lange ausgesprochen». Zehn bekannte Autorinnen und Autoren gehen von Aussagen und Beobachtungen früherer Denker und Philosophinnen aus und legen sie wie eine Schablone auf die heutige Zeit.
Unter anderem Moritz Leuenberger, Ilma Rakusa oder Ronja von Rönne fragen nach dem Zusammenhang zwischen Politik und Moral, welche Bedeutung Resilienz tatsächlich hat oder ob sich Erwachsenwerden lohnt. Und berufen sich dabei unter anderem auf Plato, Michael Ende oder Ingeborg Bachmann.
Buchhinweise:
* Thomas Strässle. Fluchtnovelle. 120 Seiten. Suhrkamp, 2024.
* Daniela Krien. Mein drittes Leben. 304 Seiten. Diogenes, 2024.
* Rachele De Caro (Hrsg.). Alle Weisheit dieser Welt ist schon lange ausgesprochen. 132 Seiten. Verlag Edition de Caro, 2024.
10/22/2024 • 26 minutes, 32 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Italiens andere Seiten
In «Der Geschichtenabnehmer» schildert der Schweizer Vincenzo Todisco die magische Atmosphäre in einem italienischen Bergdorf. Die Italienerin mit somalischen Wurzeln Igiaba Scego rollt die Geschichte ihrer Vorfahren auf, die von Kolonialismus, Diktatur und Flucht geprägt war.
Italien ist Ehrengast an der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Zu diesem Anlass diskutiert der Literaturstammtisch Titel mit italienischen Themen.
Der neue Roman «Der Geschichtenabnehmer» des Schweizer Autors Vincenzo Todisco spielt in einem fiktiven italienischen Bergdorf im Apennin. Dort gibt es eine besondere Tradition: Wenn jemand im Sterben liegt, kommt ein sogenannter Geschichtenabnehmer zu ihm. Dieser setzt sich ans Bett und hört sich an, was der Sterbende aus seinem Leben noch weitergeben möchte. Im Roman übernimmt diese verantwortungsvolle Aufgabe ein sieben Jahre alter Bub. SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr bringt Todiscos Roman mit an den Stammtisch. Sie sagt, das Buch erlaube es, beim Lesen vollkommen «in die magische und archaische Welt des Dorfs abzutauchen».
In ihrem aktuellen autofiktionalen Werk «Kassandra in Mogadischu» erzählt die italienische Autorin Igiaba Scego von den Prägungen, welche Kolonialismus, Diktatur und Bürgerkrieg auf ihre Familie ausübten. Igiaba Scegos Eltern stammten aus der ehemaligen italienische Kolonie Somalia und emigrierten nach dem Putsch von Diktator Siad Barre 1969 nach Italien. Scego erzählt von ihrem Grossvater, der noch für die italienischen Kolonialherren übersetzte. Es geht um die Flucht ihrer Eltern nach Rom, um den Versuch, mit Traumata zu leben – und um die Kraft, die im Erzählen liegt. Igaba Scego schildere das Schreckliche mit einem hoffnungsvollen Unterton, sagt Valentin Schneider: «Das macht betroffen und berührt.»
Buchhinweise:
* Igiaba Scego. Kassandra in Mogadischu, aus dem Italienischen von Verena von Koskull. 412 Seiten. S. Fischer, 2024.
* Vincenzo Todisco. Der Geschichtenabnehmer. 252 Seiten. Atlantis, 2024.
10/15/2024 • 24 minutes
Aktuelle Buchempfehlungen: Lesegenuss
Der humoristische und höchst unterhaltsame Roman «Damenschach» des jungen deutschen Schriftstellers Finn Job und der neue Roman «Intermezzo» der teils umstrittenen und doch auch verehrten irischen Bestsellerautorin Sally Rooney sind Thema am Literaturstammtisch im BuchZeichen auf Radio SRF 1.
Marie-Louise will ihren 50. Geburtstag gar nicht feiern. Aber plötzlich steht ihr «Hausfreund» David in der Küche ihrer vollgestopften Villa. Und kurz darauf klingelt auch Marie-Louises Zwilling, der neuerdings ein Mann ist und seine Freundin Olivia im Schlepptau hat. Sympathien untereinander gibt es wenig, dafür umso mehr Alkohol. Und während alle verbal übereinander herfallen, hält die intellektuelle Haushälterin Ivana die schrille Party von der Kücheninsel aus im Blick. Finn Jobs Roman «Damenschach» ist ein herrlich überzeichnetes Kammerspiel, bei dem Tim Felchlin regelmässig laut lachen musste.
Die irische Autorin Sally Rooney ist 33 Jahre alt und hat bereits drei Bestseller geschrieben. Sie gilt als «Stimme der Millennials». Jetzt ist ihr sehnsüchtig erwarteter vierter Roman «Intermezzo» erschienen. Im Zentrum stehen zwei Brüder Ivan und Peter Koubek, die gerade ihren Vater verloren haben. Auch wenn die für Rooney typischen Liebesgeschichten und Sexszenen nicht fehlen, wagt Rooney mit dem Thema Trauer etwas Neues. Und überzeugt damit einmal mehr, findet Lea Dora Illmer.
Buchhinweise:
* Finn Job. Damenschach. 176 Seiten. Wagenbach, 2024.
* Sally Rooney. Intermezzo. Aus dem Englischen von Zoë Beck. 496 Seiten. Claassen, 2024.
* Uwe Wittstock. Marseille 1940. 351 Seiten. C.H.Beck, 2024.
10/8/2024 • 23 minutes, 53 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Im Strudel der Beziehungen
Anna Katharina Hahn schildert in «Der Chor» humorvoll die Lebenswelten von ganz unterschiedlichen Frauenfiguren und ihren Umgang mit den kleinen und grossen Widrigkeiten des Lebens. Und in «Schwindel» erzählt Hengameh Yaghoobifarah witzig und selbstironisch eine queere Vierecksbeziehung.
Die 54jährige Autorin Anna Katharina Hahn landete 2009 mit «Kürzere Tage» einen Longseller. Sie vereinte ganz gewöhnliche Menschen in einer Stuttgarter Strasse zu einem beschwingten Gesellschaftsroman. Auch Hahns fünfter Roman «Der Chor» hat einen vertrauten Ausgangspunkt: Frauen, die sich wöchentlich zum Singen treffen. Daraus entwickeln sich die Geschichten vieler Leben mit ihren Höhen und Tiefen. Ein Roman «mit Witz und Drive, der ganz nah bei seinen Figuren» sei, sagt Franziska Hirsbrunner. Er lese sich, «als würde man mitsingen».
Hengameh Yaghoobifarah ist eine Ikone der queeren Popkultur. Im neuen Roman «Schwindel» trifft die non-binäre Autorenperson den Zeitgeist in Sachen Liebe und queerem Begehren: Es geht um Polyamorie, um Bindungsängste und ums Ghosten. Bereits das Setting ist schwindelerregend, denn Ava und ihre drei Liebschaften schliessen sich versehentlich auf einem Hochhausdach aus. Und queer sind nicht nur die Figuren, sondern auch die Sprache. Gemäss Lea Dora Illmer bietet das Buch «eine sehr lesenswerte chaotische Komödie».
Buchhinweise:
* Anna Katharina Hahn. Der Chor. 282 Seiten. Suhrkamp Verlag 2024.
* Hengameh Yaghoobifarah. Schwindel. 240 Seiten. Blumenbar, 2024.
10/1/2024 • 24 minutes, 51 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Machtkämpfe und Twitterpoesie
«Das Institut» von Christian Haller erzählt vom Innenleben einer Institution, die von Machtgerangel geprägt ist. Clemens J. Setz «Das All im eignen Fell» ist eine Hommage an die kurze Poesie im digitalen Raum. Und «Kleine Monster» von Jessica Lind hinterfragt idealisierte Bilder der Kindheit.
In «Das Institut» schaut der letztjährige Gewinner des Schweizer Buchpreises Christian Haller auf seine Zeit beim Gottlieb Duttweiler Institut zurück, wo er in den 70er-Jahren als Bereichsleiter «Sozialen Studien» tätig war. Er beschreibt den schnellen Aufstieg eines jungen Mannes innerhalb eines Instituts, das sich dem Guten und Gemeinnützigen verschrieben hat, sich selbst aber immer mehr in Machtkämpfe verstrickt. Michael Luisier, der das Buch am Stammtisch vorstellt, überzeugt daran nicht nur die Aktualität von Hallers Roman, sondern auch «die Genauigkeit der Sprache und das Vermögen des Autors, die Dinge hinter den Dingen zu sehen».
Der Österreicher Autor Clemens J. Setz geht in seinem neusten Werk «Das All im eignen Fell» einer ganz anderen Art Literatur nach: der sogenannten Twitterpoesie. Für ihn ist das nichts weniger als ein verkanntes Genre der Literatur – das nur im Internet stattgefunden hat, und nur zu der Zeit, als die Plattform X noch Twitter hiess. Die meisten der Inhalte seien bereits wieder gelöscht. Clemens J. Setz hat in seinem Buch viele eigene und fremde Beispiele zusammenzutragen und geht dem Genre der Twitterpoesie auch analytisch auf den Grund. Für Simon Leuthold ist das Buch «voll frischem Wind» und mache «einen ganz neuen Bereich der Literaturwelt erfahrbar».
Wie gut kennen Eltern ihre Kinder? Und wie sehr projizieren Erwachsene vorgefasste Vorstellungen von Kindheit auf den Nachwuchs? Um diese Fragen kreist der aktuelle Roman «Kleine Monster» der jungen Österreicherin Jessica Lind. Das Buch sei «psychologisch raffiniert, sprachlich präzise und aufgrund der spannungsgeladenen Erzählweise ein Pageturner», sagt Felix Münger.
Buchhinweise:
* Christian Haller. Das Institut. 272 Seiten. Luchterhand, 2024.
* Jessica Lind. Kleine Monster. 249 Seiten. Hanser Berlin, 2024.
* Clemens J. Setz. Das All im eignen Fell. 192 Seiten. Suhrkamp, 2024.
9/24/2024 • 25 minutes, 20 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Franz Hohler und Margaret Atwood
Grosse Namen stehen auf den Büchern, die heute auf dem Literaturstammtisch liegen. Franz Hohler erzählt von Freundschaften, Margaret Atwood thematisiert den Sinn des Lebens.
Franz Hohler ist ein Menschenfreund. Zu seinen Weggefährten und Freundinnen zählen Mani Matter, Mariella Mehr, Wolf Biermann und viele andere Kunstschaffende, über die Franz Hohler auch geschrieben hat. Dutzende persönliche Porträts, Gedichte, Laudationen und Abschiede sind im Verlauf der letzten 50 Jahre zusammengekommen und nun in einem Band festgehalten. «Franz Hohler & friends» ist ein Buch, das daran erinnert, wie sehr sich ein Leben auch über die Freundschaften auszeichnet, die wir führen, findet Tim Felchlin.
Margaret Atwood feierte mit «Report der Magd (1985)» und der Fortsetzung «Die Zeuginnen (2019)» Welterfolge. Erschreckend nah an einer zukünftigen Realität beschreiben die beiden Romane gesellschaftliche Unterdrückung, politische Willkür und die Zerstörung der Natur. Nun hat die 84jährige kanadische Autorin einen neuen Erzählband publiziert. Er heisst «Hier kommen wir nicht lebend raus» und enthält neben Science Fiction, feministischen, ökologischen und dystopischen Texten auch acht Geschichten, in denen Atwood von ihrem Eheleben erzählt. Franziska Hirsbrunner nimmt ihn mit an den Literaturstammtisch.
Chetna Maroo hat mit «Western Lane» ihr Debüt geschrieben. Sie erzählt darin von einer Familie mit drei Teenage-Töchtern, die über den Verlust ihrer Mutter hinwegkommen muss. Um den Zusammenhalt der Familie zu fördern, spielt der Vater jeden Tag Squash mit seinen Mädchen, Gopi, die Jüngste, entdeckt darin Kraft und Trost. Ein zartes, poetisches Buch, das Hoffnung macht, findet Britta Spichiger, weil es zeigt, dass man Mut manchmal von unerwarteter Seite bekommt.
Buchangaben
* Franz Hohler. Franz Hohler & friends. 304 Seiten. Luchterhand, 2024.
* Margaret Atwood. Hier kommen wir nicht lebend raus. Storys. Aus dem Englischen von Monika Baark. 303 Seiten. Berlin Verlag, 2024.
* Chetna Maroo. Western Lane. Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann. 192 Seiten. Luchterhand, 2004.
9/17/2024 • 26 minutes, 59 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Auf den Spuren des Lebens
Eric Bergkrauts «Hundert Tage im Frühling» ist eine feinsinnige Hommage an seine verstorbene Ehefrau Ruth Schweikert. Nora Bossong erkundet in «Reichskanzlerplatz» den dunklen Lebensweg von Magda Goebbels. Und Martin R. Dean legt in «Tabak und Schokolade» tabuisierte biografische Wurzeln frei.
Die Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert wurde 58 Jahre alt. Als sie im Juni vergangenen Jahres starb, verstummte eine der wichtigsten literarischen Stimmen der Schweiz. Für einen letzten, leisen Nachhall sorgt nun ihr Ehemann, der Dokumentarfilmer Eric Bergkraut. Er hat ein Buch über die Wochen vor ihrem Tod geschrieben. Es heisst «Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds». Das Buch sei «himmeltraurig», sagt Katja Schönherr, aber auch «voller Liebe» zur Verstorbenen.
Die deutsche Autorin Nora Bossong macht in ihrem aktuellen Werk «Reichskanzlerplatz» Magda Goebbels zum Thema, die Ehefrau des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels. Sie war eine flammende Nationalsozialistin und stilisierte sich als «Übermutter des Dritten Reichs». Nora Bossong zeichnet den Lebensweg von Magda Goebbels nach und wirft dabei die Frage auf, an welchen Weggabelungen des Lebens die Frau anders hätte abbiegen können. Das Buch sei «unbequem», sagt Simon Leuthold, aber «höchst beeindruckend».
Der Basler Autor Martin R. Dean erkundet in seinem neusten Roman «Tabak und Schokolade» seine eigene geteilte Identität: Der Autor ist der Sohn einer weissen Schweizerin und eines Schwarzen aus Trinidad in der Karibik. Die Eltern trennten sich früh. Dean wuchs mit der Mutter im Aargau auf. Sie heiratete erneut. Der leibliche Vater wurde in der neuen Familie tabuisiert. In seinem Buch schildere Martin R. Dean «einfühlsam und packend seine Suche nach den Vorfahren des Vaters», sagt Felix Münger. Die intime Selbsterkundung führt den Autor bis zu den Schrecken der Kolonialzeit.
Buchhinweise:
* Eric Bergkraut. Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds. 200 Seiten. Limmat-Verlag, 2024.
* Nora Bossong. Reichskanzlerplatz. 295 Seiten. Suhrkamp, 2024.
* Martin R. Dean. Tabak und Schokolade. 220 Seiten. Atlantis, 2024.
9/10/2024 • 25 minutes, 32 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Alina Bronsky und Martina Hefter
Die deutsch-russische Autorin Alina Bronsky bringt einem mit einer besonderen Freundschaftsgeschichte zum Schmunzeln. Und die deutsche Autorin Martina Hefter erzählt eindrücklich vom Internet-Phänomen Love Scamming.
Lust auf eine Komödie? Katja Schönherr empfiehlt «Pi mal Daumen» von der deutsch-russischen Autorin Alina Bronsky. Hauptfigur ist Oscar, ein hochbegabter Adelsjunge. Erst 16-jährig, studiert er bereits Mathematik. Während der Vorlesung lernt er Moni kennen: Moni hat drei Enkel, mehrere Nebenjobs und liebt Outfits im Leopardenmuster. Sie ist fest entschlossen, sich den Traum von einem Mathe-Studium zu erfüllen. Der adlige Schnösel und die strauchelnde Grossmutter: So unterschiedlich die beiden auch sind – sie freunden sich an und merken schnell, was sie aneinander haben.
Früher sprach man von Heiratsschwindel. Heute heisst das betrügerische Spiel mit Gefühlen Love Scam und ist ein Riesengeschäft im Internet. Franziska Hirsbrunner empfiehlt «Hey guten Morgen, wie geht es dir?» der deutschen Schriftstellerin Martina Hefter. Es ist ein bittersüsser Roman, der den Liebesbetrug durchkreuzt. Schlaflos vor Sorge um ihren todkranken Mann chattet eine Frau mit Männern, die ihr auf Instagram Avancen machen. Sie lügt dabei fast noch dreister als ihr jeweiliges Gegenüber. Unmerklich ergeben sich daraus Fragen nach der Identität und dem Sinn des Lebens.
Wie steht ein individuelles Leben im historischen Kontext? Mit dieser Frage befasst sich der brasilianische Autor José Henrique Bortoluci in seinem Buch «Was von meinem Vater bleibt». Er erzählt aus dem Leben seines Vaters, der über fünfzig Jahre lang Lkw-Fahrer war und mit seinen Transporten auch zur Zerstörung des Amazonas-Gebietes beigetragen hat. Eine differenzierte, empathische Auseinandersetzung, findet Britta Spichiger, mit dem versöhnlichen Fazit, dass jede Generation – trotz sich verändernder Umstände – von der Hoffnung auf ein besseres Leben begleitet ist.
Buchhinweise:
* Alina Bronsky. Pi mal Daumen. 270 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2024.
* Martina Hefter. Hey guten Morgen, wie geht es dir?. 222 Seiten. Klett-Cotta, 2024.
* José Henrique Bortoluci. Was von meinem Vater bleibt. Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. 175 Seiten. Aufbau, 2024.
9/3/2024 • 24 minutes, 52 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Was ist die Wahrheit?
In «Favorita» von Michelle Steinbeck kämpfen unterschiedliche Ideologien um den Anspruch auf Wahrheit. Dana von Suffrins «Nochmal von vorne» handelt vom Versuch, Licht in eine Familiengeschichte zu bringen. Und im Krimi «Stürzende Feuer» schickt Ben Pastor den Detektiv ins Berlin der Nazis.
Fila will eigentlich bloss aufklären, unter welchen Umständen ihre Mutter in Italien gestorben ist und gerät unversehens zwischen die Fronten eines erbitterten Kampfes im italienischen Untergrund zwischen revolutionären Frauen und Neofaschisten. Die Schweizer Autorin Michelle Steinbeck knöpft sich in ihrem zweiten Roman «Favorita» grosse Themen vor: Femizide, Faschismus und Verschwörungen. Ein rasanter, wilder, mitunter fantastischer Roman, findet Simon Leuthold - ganz Michelle Steinbeck eben.
Was bleibt von meiner Familie? Diese Frage stellt sich die Ich-Erzählerin Rosa nach dem Tod ihres Vaters im Roman «Nochmal von vorne». Geschrieben hat ihn die deutsche Autorin Dana von Suffrin. In Rosa wächst das Bedürfnis, die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren. Der Roman schildert eine deutsch-jüdische Familie, in der es vor allem eines gab: Konflikte. Obwohl das Buch eigentlich eine tragische Geschichte erzähle, überzeuge es doch durch seine Leichtfüssigkeit, mit der es erzählt sei, sagt Katja Schönherr.
Die Italienerin Ben Pastor ist eine bei uns noch wenig bekannte Krimiautorin. Sie lässt ihre Fälle vorab in historischer Zeit spielen. In «Stürzende Feuer», dem seit längerer Zeit ersten Fall in deutscher Übersetzung, ermittelt der Wehrmachtsoffizier Martin Bora einen dubiosen Mordfall im nationalsozialistischen Berlin. Dabei kommt er auch in den Kontakt mit den Verschwörern um Graf von Stauffenberg, die einen Anschlag auf Hitler planen. Felix Münger hat den Krimi mit Interesse gelesen, auch weil darin die Hauptfigur mit der Frage konfrontiert werde, was moralisch richtiges Handeln ist.
Buchhhinweise:
* Ben Pastor. Stürzende Feuer. Aus dem Englischen von Hella Reese. 446 Seiten. Unionsverlag, 2024.
* Michelle Steinbeck. Favorita. 464 Seiten. park x ullstein, 2024.
* Dana von Suffrin. Nochmal von vorne. 240 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2024.
8/27/2024 • 24 minutes, 21 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Erste Herbstbücher
Mit Ausnahme von Mariann Bühlers Debütroman «Verschiebung im Gestein», das schon im Juli erschienen ist, diskutiert die Runde am Literaturstammtisch die ersten Bücher der Herbstsaison: «Fast wie ein Bruder» von Alain Claude Sulzer und «Reise nach Laredo» von Arno Geiger.
Als Literaturvermittlerin ist Mariann Bühler bereits wohlbekannt. Nun legt sie ihren ersten Roman vor. «Verschiebung im Gestein» erzählt von drei Figuren, die alle mit Veränderungen in ihren Leben konfrontiert sind: Todesfälle, Aufbrüche, Enttäuschungen. Was die drei verbindet, ist ein entlegenes Bergtal und die Tatsache, dass sie sich lieber mit Nebensächlichkeiten abgeben, als sich ihren Schwierigkeiten zu stellen. Gleichzeitig ist das Buch eine unkitschige Ode an die Langsamkeit auf dem Land. Ein höchst gelungenes Debüt, das leise Töne anschlägt, es aber in sich hat, findet Simon Leuthold.
Dem österreichischen Bestsellerautor Arno Geiger sei mit seinem neuen Roman «Reise nach Laredo» ein Wurf geglückt, findet Felix Münger. Das Buch erzählt die Geschichte eines schwerkranken alternden Königs im 16. Jahrhundert, der sich in ein Kloster zurückgezogen hat, um dort auf den Tod zu warten. Doch dann bricht der lebensüberdrüssige Monarch unverhofft zu einer letzten Reise auf. Sie erweist sich als abenteuerlicher Roadtrip, der den alten König zu sich selbst zurückführt.
Der Tipp der Woche kommt von Michael Luisier. Er empfiehlt «Fast wie ein Bruder», den neuen Roman von Alain Claude Sulzer.
Buchhinweise:
Mariann Bühler. Verschiebung im Gestein. 208 Seiten. Atlantis, 2024.
Arno Geiger. Reise nach Laredo. 272 Seiten. Hanser, 2024.
Alain Claude Sulzer. Fast wie ein Bruder. 189 Seiten. Galiani Berlin, 2024.
8/20/2024 • 26 minutes, 50 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Von Empathie und Einsamkeit
Beide Bücher auf dem heutigen Literaturstammtisch kommen aus Österreich. Monika Helfer erzählt in «Die Jungfrau» von einer intensiven Frauenfreundschaft und vom Umgang mit der Einsamkeit. David Fuchs stellt in seinem aktuellen Buch «Zwischen Mauern» die Frage, ob es bedingungslose Empathie gibt.
Zwei Jugendfreundinnen begegnen sich nach einem halben Jahrhundert wieder. Gloria und Monika. Die eine hat Familie und Erfolg als Schriftstellerin, die andere lebt einsam in ihrer riesigen Villa. Monika beschliesst, über Gloria zu schreiben. Das Resultat ist ein schonungsloses, aber liebevolles Portrait einer Frauenfreundschaft – von den sechziger Jahren bis heute. Lea-Dora Illmer stellt Monika Helfers neues Buch «Die Jungfrau» vor.
Im Roman «Zwischen Mauern» ist Meta auf der Suche nach Sinn. Als ehrenamtliche Mitarbeiterin verschlägt es sie in ein Pflegeheim, das kaputtgespart wurde und vor der Schliessung steht. Meta wird dort Nachtwache halten – und zwar am Bett eines sterbenden Mannes, der zu schreien beginnt, sobald es dunkel wird. Als Meta mehr von der Geschichte dieses Mannes erfährt, steht sie vor der Frage: Verdienen auch böse Menschen in ihren letzten Tagen liebevolle Zuwendung? Katja Schönherr bringt das Buch an den Literaturstammtisch.
Im heutigen Kurztipp empfiehlt Britta Spichiger den neuen Roman der US-Autorin Jeannette Walls, «Vom Himmel die Sterne». Walls erzählt darin die fiktive Geschichte von Sally Kincaid. Eine unerschrockene, starke Frau, die in den 1920-er Jahren erkennt, dass ihre Familie nur überlebt, wenn sie mit illegal selbstgebranntem Whisky handelt. Und so stellt sie – allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz – ihre eigenen Regeln auf und wird zur «Königin der Kincaid-Schmuggler».
Buchhinweise:
* David Fuchs. Zwischen Mauern. 223 Seiten. Haymon, 2023.
* Monika Helfer. Die Jungfrau. 152 Seiten. Carl Hanser, 2023.
* Jeannette Walls. Vom Himmel die Sterne. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. 448 Seiten. Hoffmann und Campe, 2023.
Wiederholung der BuchZeichen-Sendung vom 23.01.2024
8/13/2024 • 23 minutes, 56 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Leben in Bedrängnis (Wiederholung)
Zwei Romane, die vom gesellschaftlichen Druck auf Individuen erzählen: Von unserem Umgang mit betagten Menschen handelt «Die Arbeiterin» des Franzosen Didier Eribon. Und «Nachbarn» der Afroamerikanerin Diane Oliver schildert die prekäre Lage von Schwarzen in den USA – in den 1960ern wie heute.
Der Schriftsteller, Soziologe und Philosoph Didier Eribon schreibt seine Familiengeschichte weiter. «Eine Arbeiterin: Leben, Alter und Sterben» ist das Portrait seiner Mutter. Eine Mischung aus autobiografischem Schreiben und soziologischem Essay. Eribon beschreibt seine Schuldgefühle, nachdem er die Mutter gegen ihren Willen in ein Pflegeheim einwies. Wie er danach ihre nächtlichen Klagen und Telefonate aushalten musste. Von ihrer Verzweiflung und Vereinsamung hörte. Das Buch sei ebenso «gehaltvoll wie fesselnd», sagt Annette König.
Schwarze in den USA, die für Emanzipation und Gleichberechtigung einstehen – davon erzählen die Erzählungen im Band «Nachbarn» der 1966 verstorbenen US-amerikanischen Autorin Diane Oliver. So schildert sie etwa einen siebenjährigen Knaben, der als erstes Schwarzes Kind auf eine Schule der Weissen muss. Mit feinen, nüchternen Beobachtungen zeige die Autorin, was Rassismus bedeute, sagt Britta Spichiger. Obwohl die Geschichten in den 1960ern spielen, seien sie noch immer aktuell.
Einen Spaziergang durch die Weltliteratur – dies bietet der neue Sammelband «19/21 Synchron global» des Schweizer Literaturwissenschafters Charles Linsmayer. Das Buch versammelt 135 literarische Texte aus verschiedenen Weltregionen. Die thematisch gegliederte Auswahl ermögliche, Unbekanntes zu entdecken. Und dabei zu erfahren, wie unterschiedliche Autorinnen und Autoren zu Urthemen der Menschheit wie Freiheit, Glück oder Natur dachten, sagt Felix Münger.
Buchhinweise:
* Didier Eribon. Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Aus dem Französischen von Sonja Finck. 240 Seiten. Suhrkamp, 2024.
* Diane Oliver. Nachbarn. Aus dem Englischen von Brigitt Jakobeit und Volker Oldenburg. 304 Seiten. Aufbau, 2024.
* Charles Linsmayer (Hrsg.). 19/21 Synchron global, ein weltliterarisches Lesebuch von 1870 bis 2020. 652 Seiten. Th. Gut, 2024.
Wiederholung der BuchZeichen-Sendung vom 19.03.2024
Elizabeth Strout erzählt eine komplexe Familiengeschichte mit grosser Leichtigkeit. Elmore Leonard nimmt uns mit in den Wilden Westen, wo auf Kugel komm raus geballert wird. Und auf der aktuellen SRF-Bestenliste im April stehen alles Bücher, die einen guten Lesefrühling garantieren.
«Am Meer» von Elizabeth Strout handelt von Lucy Barton, einer rund 70-jährigen Schriftstellerin, die mit ihrem Ex-Mann von New York City nach Maine zieht, in ein Haus am Meer, um der Pandemie zu entkommen. In der Einsamkeit blickt sie auf ihr Liebesleben zurück und sorgt sich um ihre längst erwachsenen Töchter. Elizabeth Strout gelinge es, diese komplexe Familiengeschichte in einer einzigartigen Leichtigkeit zu erzählen, meint SRF-Literaturredaktorin Jennifer Khakshouri.
Warum nicht wieder einmal einen Western lesen? So wie früher? Die Gelegenheit bietet aktuell der packende Roman «Letztes Gefecht am Saber River» des US-Amerikaners Elmore Leonard. Der 1959 erschienene Roman liegt jetzt erstmals auf Deutsch vor. Die zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielende Geschichte habe alle Ingredienzien des klassischen Testosteron-Abenteuers im Wilden Westens. Aber nicht nur, findet Felix Münger. Gerade die Frauenfiguren und die Geschlechterrollen seien überraschend modern dargestellt.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König die fünf Bücher vor, die auf der aktuellen SRF-Bestenliste im April stehen. Alle fünf Titel seien ausnehmend gelungene Page-Turner, die jeglichen Anflug von Frühlingsmüdigkeit mit einem Wisch hinwegfegen würden.
Buchhinweise:
* Elizabeth Strout. Am Meer. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. 288 Seiten. Luchterhand, 2024.
* Elmore Leonard. Letztes Gefecht am Saber River. Aus dem Englischen von Florian Grimm. Liebeskind, 2024.
* Gaea Schoeters. Trophäe. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. 256 Seiten. Zsolnay, 2024.
* Iris Wolff. Lichtungen. 256 Seiten. Klett-Cotta, 2024.
* Percival Everett. James. 336 Seiten. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 2024.
* Barbara Kingsolver. Demon Copperhead. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. 846 Seiten. dtv, 2024.
* Anne Weber. Bannmeilen. 301 Seiten. Matthes & Seitz, 2024.
Wiederholung der BuchZeichen-Sendung vom 02.04.2024
7/30/2024 • 26 minutes, 50 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Neues aus der Schweiz
«Das kleine Haus am Sonnenhang» von Alex Capus und «Die hängende Säge» von Alice Schmid - dies die aktuellen Bücher am Literaturstammtisch im BuchZeichen.
In seinem neuen Buch «Das kleine Haus am Sonnenhang» erzählt der Oltner Schriftsteller Alex Capus von persönlichen Erinnerungen aus seiner Zeit in Italien: Im Seitental eines Seitentals im Piemont kaufte sich Capus als junger Mann ein altes Haus und schrieb dort seinen ersten Roman. Nun nimmt er seine Leserschaft mit auf einen Nostalgietrip in die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts. Er erzählt von alltäglichen Begebenheiten und besonderen Begegnungen. Das Buch, das Britta Spichiger am Literaturstammtisch vorstellt, ist eine Liebeserklärung an das kleine Haus am Sonnenhang, an das Schreiben - und das Leben.
Alice Schmid erzählt in ihrem Roman «Die hängende Säge» die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem traumatischen Erlebnis im Jugendsportlager kein Wort mehr sprechen kann. Erst mit einem Sprachaufenthalt in Belgien findet sie langsam zu ihrer Sprache zurück. Nach und nach wird absehbar, dass sie sich immer stärker von ihrem Familienumfeld im bäuerlichen Luzerner Hinterland abnabeln wird. Für Simon Leuthold ein einfühlsam geschriebener Coming-of-Age-Roman darüber, was es heisst, seinen eigenen Weg zu gehen.
Der Buchtipp kommt diese Woche von Michael Luisier. Er empfiehlt das Bändchen «Mir fällt gerade ein... Ein Sammelsurium» mit Tagebucheinträgen des Schauspielers und Sängers Manfred Krug.
Buchhinweise:
* Alex Capus. Das kleine Haus am Sonnenhang. 160 Seiten. Carl Hanser Verlag, 2024.
* Alice Schmid. Die hängende Säge. 176 Seiten. Atlantis Verlag, 2024.
* Manfred Krug. »Mir fällt gerade ein« Ein Sammelsurium. 108 Seiten. Kanon, 2024.
Wiederholung der BuchZeichen-Sendung vom 05.03.2024
7/23/2024 • 22 minutes, 2 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Von Venedig und staatlichem Terror
Schwere Lektüre, aber grosse Literatur: Die Autorin Isabelle Autissier erzählt vom Untergang Venedigs und plädiert leidenschaftlich für unsere Umwelt. Der Schriftsteller Georgi Demidow schildert eindrücklich, was geschieht, wenn man als politischer Gefangener staatlichem Terror ausgeliefert ist.
In ihrem neuen Roman «Acqua Alta» erzählt die französische Autorin Isabelle Autissier von einer gigantischen Welle, die Venedig im Jahr 2021 überschwemmt. Und dies, obwohl das Schleusensystem in der Lagune nach mehr als 17 Jahren Bauzeit und vielen Tests hätte funktionieren sollen. Die Folgen sind verheerend. Die Flut fordert viele Menschenleben. Unter den Überlebenden ist Guido Malegatti, der mit dem Boot durch die Ruinen fährt und nach Frau und Tochter sucht. Isabelle Autissier will mit ihrem fesselnden Roman aufrütteln. «Acqua Alta» sei ein leidenschaftliches Plädoyer für unsere Umwelt, findet Annette König.
Ohnmächtig dem staatlichen Terror ausgeliefert – was dies für einen Betroffenen bedeutet, erzählt der sowjetische Schriftsteller Georgi Demidow in seinem Kurzroman «Fone Kwas oder Der Idiot». Der 1987 verstorbene Autor schildert darin aufgrund eigener Erfahrungen den Horror des stalinistischen Strafsystems. Das Buch ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. Und es sei eine Entdeckung, sagt Felix Münger. Es lasse sich in Vielem auch als Kommentar auf das Leid der Zahllosen lesen, die heute als politische Häftlinge in Kerkern schmachten – in Russland und anderswo.
Ganz andere und leichte Lektüre ist der heutige Kurztipp von Britta Spichiger. «Von nahen Dingen und Menschen» ist eine Sammlung kurzer Texte und Geschichten, in denen der deutsche Autor Hanns-Josef Ortheil aus seinem Alltag und von seinen Erinnerungen erzählt. Er weckt damit die eigenen Assoziationen seiner Leserschaft. Unter anderem schreibt er von der Armbanduhr seines Vaters, wie er die Mode entdeckt hat und was seinen alten Freund Peter auszeichnet. Bei der Lektüre fragt man sich unwillkürlich, was die eigenen Erinnerungsstücke sind – und welche Freundin besonders gut zuhören kann. Ein Buch, über dessen Gesellschaft man sich in (fast) jeder Lebenslage freut.
Buchhinweise
* Isabelle Autissier. Acqua Alta. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. 208 Seiten. mare, 2024.
* Georgi Demidow. Fone Kwas oder Der Idiot. Aus dem Russischen von Irina Rastorgueva und Thomas Martin. 208 Seiten. Galiani, 2023.
* Hanns-Josef Ortheil. Von nahen Dingen und Menschen. 288 Seiten. DuMont, 2024.
Wiederholung der BuchZeichen-Sendung vom 20.02.2024
7/16/2024 • 28 minutes, 30 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Neues Glück in der Fremde?
Seit 15 Jahren erzählen Auslandschweizerinnen und -schweizer in der Rubrik «Die fünfte Schweiz» am Sonntagvormittag auf SRF 1 aus ihrem Alltag. Aus diesem Anlass liegen auf dem Literaturstammtisch Bücher über Auswandererschicksale - Werke von Therese Bichsel, Pedro Lenz und Gabrielle Alioth.
1821 wanderten rund 170 Menschen aus Bern und Neuenburg nach Kanada in die Gegend des heutigen Winnipeg aus. Ein verschuldeter Berner Patrizier hatte sie mit grossen Versprechungen angeworben. Doch statt eines besseren Lebens erwartete sie am Roten Fluss bittere Not. Diese wahre Geschichte erzählt die Schweizer Autorin Therese Bichsel in ihrem Roman «Überleben am Red River». Franziska Hirsbrunner gefällt unter anderem der Reichtum an packenden Details, mit dem das Werk aufwartet.
Der Schweizer Pedro Lenz hat mit «I bi meh aus eine» im Berner Dialekt die wundersame, aber wahre Geschichte des Hochstaplers Peter Wingeier aus dem Emmental aufgeschrieben. Der Schweizer wanderte im 19. Jahrhundert nach Argentinien aus, nahm eine falsche Identität als Arzt an und gründete sein eigenes Dorf «Romang». Wingeier sei zwar nicht sympathisch, findet Markus Gasser. Doch Pedro Lenz zeichne seine Figur dennoch als «liebe Siech» - und erweise sich dadurch einmal mehr als «unverbesserlicher Menschenfreund».
Dass die Schweiz lange Zeit ein Auswanderungsland war, geht gerne vergessen. Die Schweizer Autorin Gabrielle Alioth, die selbst seit 1984 in Irland lebt, erzählt in ihrem Sachbuch «Ausgewandert» Geschichten von Menschen aus sieben Jahrhunderten, welche die Schweiz verliessen und im Ausland das Glück suchten. Felix Münger ist beeindruckt von der Unterschiedlichkeit der Schicksale: Die einen trieb die Leidenschaft in die Fremde, andere die pure wirtschaftliche Not. Und dann gab es Menschen, die glaubten, in der Fremde das Paradies zu finden.
Buchhinweise:
* Gabrielle Alioth. Ausgewandert. Schweizer Auswanderer aus 7 Jahrhunderten. 193 Seiten. Faro, 2014.
* Therese Bichsel. Überleben am Red River, 361 Seiten. Zytglogge, 2018.
* Pedro Lenz. I bi meh aus eine. 75 Seiten. Cosmos, 2013.
Wiederholung der BuchZeichen-Sendung vom 02.01.2024
7/9/2024 • 26 minutes, 50 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: David Grann und Cécile Tlili
Die drei Bücher auf dem heutigen Literaturstammtisch sprechen ganz unterschiedliche Interessen an: eine Abenteuergeschichte für den Rucksack, ein Debüt für den Liegestuhl daheim und eine Familiengeschichte für die Strandtasche.
Was für eine Story, und erst noch eine wahre! Noch selten habe er eine derart mitreissende Abenteuergeschichte gelesen wie «Der Untergang der Wager» des US-Amerikaners David Grann, sagt Felix Münger. Der auf akribischer historischer Recherche beruhende Roman rekonstruiert die unglaubliche Geschichte des britischen Kriegsschiffs «Wager».
Es strandete 1741 an der Küste Chiles. Die Schiffbrüchigen fanden sich in der Einöde Patagoniens - hungernd und den rauen Launen der Natur ausgeliefert. Meuterei, Krankheit, Tod. Nur wenigen gelang nach Jahren einer Wahnsinnsreise die Rückkehr nach England.
Ein heisser Augustabend, zwei reiche Paare aus der gehobenen Pariser Gesellschaft, eine Einladung zum Essen. Klingt doch nett, oder? Aber dieses Diner entwickelt sich zum Desaster. In Cécile Tlilis Romandebüt «Ein Sommerabend» hat niemand Lust auf das Beisammensein unter Freunden. Und nach Aperitif-Häppchen und gespielten Nettigkeiten fallen bei allen vieren die Masken. Das zu beobachten, macht grossen Spass. Ein keckes, gesellschaftskritisches Kammerspiel, das Tim Felchlin in einem Zug durchgelesen hat.
«Der Sommer zu Hause» der US-Amerikanerin Ann Patchett sei die perfekte Sommerlektüre, findet Britta Spichiger im heutigen Kurztipp. Die Ich-Erzählerin ist Mutter dreier fast erwachsener Töchter und erzählt ihnen bei der Kirschernte auf der familieneigenen Farm von ihrem Leben, bevor sie heiratete. Es ist eine bewegte Lebensgeschichte, die die Töchter nicht nur staunen lässt, sondern sie auch dazu bewegt, die eigenen Entscheidungen zu überdenken.
Ann Patchett erzählt unprätentiös, humorvoll, empathisch – eine unbedingte Leseempfehlung!
Buchhinweise:
* David Grann. Der Untergang der Wager. Eine Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei. Aus dem Englischen von Rudolf Mast. 432 Seiten. C.Bertelsmann, 2024.
* Cécile Tlili. Ein Sommerabend. Aus dem Französischen von Norma Cassau. 192 Seiten. Kein & Aber, 2024.
* Ann Patchett. Der Sommer zu Hause. Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer. 400 Seiten. Berlin Verlag, 2024.
7/2/2024 • 29 minutes, 5 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Marc-Uwe Kling und Heinrich Steinfest
Spurensuche und Spannung zeichnen unter anderem die beiden Bücher aus, die heute auf dem Literaturstammtisch liegen. Marc-Uwe Klings «Views» ist ein gesellschaftskritischer Thriller, Heinrich Steinfests «Sprung ins Leere» ein kunsthistorischer Krimi.
«Views» so heisst das neuste Buch des deutschen Autors Marc-Uwe Kling. Eine Jugendliche verschwindet spurlos. Dafür taucht ein Video auf allen möglichen sozialen Netzwerken auf und geht viral. Der Inhalt des Videos ist verstörend, denn es zeigt, wie die Jugendliche brutal vergewaltigt wird. Die Berliner Ermittlerin Yasira Saad soll die junge Frau und die Vergewaltiger finden. Jennifer Khakshouri konnte das Buch nicht mehr weglegen: es sei so aktuell und brisant, dass man nur noch staune.
Im Roman «Sprung ins Leere» führt Heinrich Steinfest die Leserschaft einmal mehr in seinen Kosmos. Und wie immer ist man konfrontiert mit Dingen, die einem vertraut und merkwürdig zugleich vorkommen. Es geht um die Welt der Kunst, um bekannte Werke von Yves Klein oder Jacob van Ruistal, aber auch um Werke, die nur im Steinfest-Kosmos existieren. Vor allem aber erzählt Steinfest die Geschichte einer spektakulären Suche nach einer verschwundenen Künstlerin, die von Wien nach Japan und wieder zurück nach Wien führt. Grosses Kino. Und beste Literatur, findet Literaturredaktor Michael Luisier, der das Buch am Stammtisch vorstellt.
Den heutigen Kurztipp widmet Britta Spichiger dem US-amerikanischen Autor Richard Russo. In seinem neuen Roman «Von guten Eltern» erzählt er – wie schon in früheren Geschichten - von einer Kleinstadt in Upstate New York, von den Menschen dort, die allen politischen und wirtschaftlichen Widerständen zum Trotz für ein gutes Leben kämpfen. Russo nennt die Probleme beim Namen und schreibt doch über universell Menschliches, zeigt voller Empathie aber ohne Kitsch, dass es nie zu spät ist, nochmals neu anzufangen.
Buchhinweise:
* Marc-Uwe Kling. Views. 272 Seiten. Ullstein, 2024.
* Heinrich Steinfest. Sprung ins Leere. 496 Seiten. Piper, 2024.
* Richard Russo. Von guten Eltern. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. 576 Seiten. DuMont, 2024.
6/25/2024 • 25 minutes, 39 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Für alle etwas
Ein Klassiker, ein Familiengeheimnis und ein Geschichtsbuch, das auf einem Fussballspiel basiert. Am Literaturstammtisch geht es um Bücher von Julien Green, Nadine Olonetzky und Ronald Reng.
Der französisch-amerikanische Schriftsteller Julien Green (1900-1998) ist ein Jahrhundertautor: Er greift in seinen vielen Werken die sich wandelnden Zeitströmungen auf und schildert sie meisterhaft an Figuren, in deren Psyche er hineinzuschlüpfen scheint. Im neu übersetzten Roman «Treibgut» erzählt Julien Green die Geschichte eines jüngeren und wohlhabenden Bürgers im Paris der 1930er-Jahre, der sich selbst überdrüssig ist und keinen Weg findet, der Sinnentleerung zu entkommen. Der Roman, den Felix Münger am Literaturstammtisch vorstellt, ist ein eindringliches Sinnbild für eine Welt vor dem Abgrund.
Die Zürcher Autorin Nadine Olonetzky ist die Tochter eines Holocaust-Überlebenden. Lange Zeit war ihr das aber gar nicht bewusst. Nur ein einziges Mal erzählt ihr der Vater ansatzweise davon, was mit ihm und seiner jüdischen Familie während der Shoah geschehen ist. Als Nadine Olonetzky als längst erwachsene Frau einen Berg von Akten findet, entdeckt sie auch ein Familiengeheimnis, das ihr der Vater verschwiegen hat. Daraus entstanden ist ein Buch ohne Pathos, in dem Literaturredaktor Tim Felchlin auch auf weniger bekannte Kapitel der Kriegs- und Nachkriegszeit gestossen ist.
Der Buchtipp der Woche stammt von Michael Luisier. Zum Auftakt der Euro 2024 empfiehlt er ein ganz besonderes Fussballbuch. Ronald Rengs Buch «1974 – Eine deutsche Begegnung», das sich um die legendäre Partie zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland während der WM 1974 in Hamburg dreht, geht es nämlich nicht nur um Fussball. Es geht um die gesamte deutsche Geschichte der frühen 70er-Jahre. Erstaunlich, was sich alles über Fussball erzählen lässt!
Buchhinweise:
* Julien Green. Treibgut. Aus dem Französischen von Wolfgang Mat. 400 Seiten. Hanser, 2024.
* Nadine Olonetzky. Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist. 448 Seiten. S. Fischer, 2024.
* Ronald Reng. 1974 – Eine deutsche Begegnung. 428 Seiten. Piper, 2024.
6/18/2024 • 26 minutes, 37 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Schauplatz Italien
In ihrem ersten Roman erzählt die junge Italienerin Beatrice Salvioni von einer Frauenfreundschaft im Italien der 1930-er Jahre. Und der österreichische Autor Stephan Roiss lässt seinen Helden nach Italien flüchten – um dort eine wichtige Lebensweisheit zu finden.
In ihrer Heimat Italien war der Debütroman der 29-jährigen Autorin Beatrice Salvioni ein grosser Erfolg. Jetzt erscheint er auf Deutsch. Schauplatz des Romans ist eine Kleinstadt in Norditalien in den 1930er-Jahren. Vor dem Hintergrund des Faschismus erzählt Salvioni von den religiösen und patriarchalen Zwängen im Alltag zweier Mädchen: Maddalena und Francesca beginnen zu rebellieren – und kämpfen um ein selbstbestimmtes Leben. Ein mitreissender Roman über eine tiefe Freundschaft, findet Literaturredaktorin Katja Schönherr.
Das Leben des jungen Musikers Leon wird von Krisen nur so durchgeschüttelt: Nach dem Tod seiner Mutter quälen ihn Selbstvorwürfe. Zum Vater meidet er jeden Kontakt. Als Leon auch noch erfährt, dass er Krebs hat, folgt er einer Einladung nach Italien. Leons Reise ist eher eine Flucht als eine Heldengeschichte, aber sie bringt Leon eine Gewissheit: «Das Leben lohnt sich nicht, aber es ist gut und schön.» «Lauter» von Stephan Roiss ist ein lebensbejahender Roman – mal dröhnend laut, dann wieder ganz leise. Von dieser Musikalität ist Literaturredaktor Tim Felchlin beeindruckt.
Claudette Wells ist ein ehemaliger grosser Filmstar. Vor Jahren flüchtete sie - noch während den Dreharbeiten zu einem neuen Film – mit ihrem Sohn in ein zerfallenes Haus in einer abgelegenen irischen Provinz. Seither führen sie und ihr Mann eine Ehe unter besonderen Umständen. Und als er eine ehemalige Geliebte im Radio hört, beginnt das Drama erst recht. «Hier muss es sein» - in diesem Roman schildert die irisch-britische Autorin Maggie O'Farrell viele Facetten einer Ehe, zeigt Brüche, Veränderungen – und stellt die zentrale Frage, was uns – trotz allem – in einer Beziehung zusammenhält. Literaturredaktorin Britta Spichiger stellt das Buch im Kurztipp vor.
Buchhinweise:
* Beatrice Salvioni. Malnata. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. 272 Seiten. Penguin, 2024.
* Stephan Roiss. Lauter. 240 Seiten. Jung und Jung, 2024.
* Maggie O'Farrell. Hier muss es sein. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. 544 Seiten. Piper, 2024.
6/11/2024 • 22 minutes, 44 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Miranda July und Anne Weber
In den beiden Büchern auf dem Literaturstammtisch geht es dieses Mal um persönliche Entdeckungen und Erfahrungen. Die US-Amerikanerin Miranda July erzählt tabulos von einer Frau in den Wechseljahren, die Deutsche Anne Weber von fremden Vierteln einer ihr vertrauten Stadt.
Eine 45-jährige Frau schenkt sich selbst zum Geburtstag eine Reise von Los Angeles nach New York. Aber weit kommt sie nicht. Ein paar Meilen von ihrem Zuhause entfernt, verliebt sie sich vermeintlich in einen Tankstellenwächter. Die 50-jährige US-Autorin Miranda July ist ein Multitalent. Sie arbeitet unter anderem als Filmemacherin, Performance-Künstlerin und Schriftstellerin. Und mit ihrem neuesten Roman «Auf allen vieren» ist ihr erneut ein provokativer Roman gelungen, der das Thema «Wechseljahre» ohne Tabus anspricht. Jennifer Khakshouri hat das Buch mit Genuss, aber auch mit ein wenig roten Ohren gelesen.
Die Pariser Banlieues haben einen schlechten Ruf: Betonwüsten, Drogenkriminalität, Strassenkrawalle. Diese Randgebiete hat die seit rund vierzig Jahren in Paris lebende Autorin Anne Weber kaum je betreten. Nun erkundet sie sie in ihrem aktuellen Buch «Bannmeilen». Dabei fördert sie Überraschendes zu Tage: Inmitten der Trostlosigkeit stösst sie auf hochmoderne Bauten und historische Hotspots - und sie kommt in den Austausch mit Einheimischen. Für Felix Münger gelingt es Anne Weber, uns die Augen für «das Fremde in der Nachbarschaft» zu öffnen und uns mit ihm auf menschlicher Ebene verbunden zu fühlen.
Buchhinweise:
* Miranda July. Auf allen Vieren. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. 416 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2024.
* Anne Weber. Bannmeilen. 301 Seiten. Matthes & Seitz, 2024.
6/4/2024 • 27 minutes, 33 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Gänsler, Jügler und Gardam
Die deutsche Autorin Franziska Gänsler erzählt von einer verschwundenen Schwester, der deutsche Autor Matthias Jügler von einem totgeglaubten Sohn. Und die englische Schriftstellerin Jane Gardam von einer einsamen, traumatisierten Frau. Geschichten aus dem Leben – brillant erzählt.
Katja Schönherr bringt den neuen Roman von Franziska Gänsler mit an den Literatur-Stammtisch. Der Titel: «Wie Inseln im Licht». Die Handlung: Als ihre kleine Schwester verschwindet, ist Zoey selbst noch ein Kind. Jetzt, zwanzig Jahre später, sind ihre Erinnerungen daran bruchstückhaft und widersprüchlich. Warum wurde nie nach der Schwester gesucht? Lebt die Schwester womöglich noch? Zoey begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit. «Wie Inseln im Licht» liest sich manchmal fast wie ein Krimi – und ist dabei sehr elegant geschrieben.
DDR, 1970er Jahre. Ein frischgebackenes Lehrerpaar bekommt sein erstes Kind. Es stirbt gleich nach der Geburt an einem Herzfehler. Die Ehe zerbricht am Schmerz. Vierzig Jahre später ruft der totgeglaubte Sohn den Vater an. Matthias Jüglers Roman «Maifliegenzeit» basiert auf einem wahren Fall. Es ist allerdings umstritten, wie oft es in der DDR zu vorgetäuschtem Säuglingstod zwecks Adoption kam. Unbestritten ist die tiefe Verstörung und die Ohnmacht bei der Suche nach der Wahrheit. Matthias Jügler erzählt davon leise, aber eindringlich und so, dass der Stoff auch etwas Universelles bekommt. Franziska Hirsbrunner stellt «Maifliegenzeit» vor.
«Gute Ratschläge» - so heisst der neu auf Deutsch veröffentlichte Briefroman der englischen Autorin Jane Gardam. Die guten Ratschläge erteilt Eliza Peabody, eine Hausfrau Anfang fünfzig, die den ganzen Tag am Fenster sitzt und ihre Nachbarschaft beobachtet. Sie schreibt sie an ihre Nachbarin, gibt in ihren Briefen aber je länger desto mehr auch private Details preis. Und so entsteht das Porträt einer einsamen und vom Leben enttäuschten Frau. Gleichzeitig ist «Gute Ratschläge» aber auch eine brillante Gesellschaftssatire – mit der für Gardam so typischen Mischung aus Empathie, Scharfblick und Humor. Britta Spichiger stellt das Buch als Kurztipp vor.
Buchangaben
* Franziska Gänsler. Wie Inseln im Licht. 206 Seiten. Kein & Aber, 2024.
* Matthias Jügler. Maifliegenzeit. 160 Seiten. Penguin, 2024.
* Jane Gardam. Gute Ratschläge. Aus dem Englischen von Monika Baark. 320 Seiten. Hanser Berlin, 2024.
5/28/2024 • 26 minutes, 16 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Huckleberry Finn neu erzählt
Die Geschichte von Huckleberry Finn aus der Sicht des Sklaven Jim erzählt. «James» von Percival Everett ist genauso Thema am Literaturstammtisch wie «Windstärke 17» von Caroline Wahl und das hochengagierte Werk «Altern» von Elke Heidenreich.
Percival Everett erzählt in «James» die weltberühmte Geschichte von Huckleberry Finn neu - aus der Perspektive des Sklaven Jim. Wie bei Mark Twain fliehen Huck und Jim gemeinsam auf dem Mississippi. Für Jim als entlaufener Sklave ist die Flucht aber kein Lausbubenabenteuer, denn jede Begegnung mit Menschen kann ihn an den Galgen bringen. Beklemmend und fesselnd wie ein Thriller liest sich, wie Everett seinen Jim durch absurde Situationen treibt und dabei mit der Sprache irrwitzige Kapriolen schlägt. Lesepflichtstoff! Meint SRF-Literaturredaktor Markus Gasser.
Mit ihrem Debütroman «22 Bahnen» ist der deutschen Autorin Caroline Wahl ein Überraschungserfolg gelungen. Nun legt Wahl ihr zweites Buch vor – wieder einen mit einer Zahl im Titel: «Windstärke 17» handelt von der jungen Frau Ida, deren alkoholkranke Mutter gerade gestorben ist. In ihrer Trauer flüchtet sich Ida auf die Ostseeinsel Rügen. Sie findet dort: die Liebe. SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr empfiehlt «Windstärke 17» schon jetzt als «perfekte Lektüre für die Sommerferien».
Der Buchtipp kommt diese Woche von Michael Luisier. Er empfiehlt Elke Heidenreichs neues Buch «Altern». Ein persönliches, ehrliches, lebenskluges und lebensbejahendes Buch zu einem Thema, dass uns alle betrifft.
Buchhinweise:
* Percival Everett. James. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. 330 Seiten. Hanser, 2024.
* Caroline Wahl. Windstärke 17. 256 Seiten. DuMont, 2024.
* Elke Heidenreich. Altern. 112 Seiten. Hanser Berlin, 2024.
5/21/2024 • 22 minutes, 14 seconds
«BuchZeichen» live von den Solothurner Literaturtagen
«Das eigene Leben als Inspiration» - unter diesem Motto steht die SRF 1-Literatursendung «BuchZeichen».
Theres Roth-Hunkeler und Nando von Arb stehen an unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben und diskutieren mit Britta Spichiger, wie ihre persönlichen Erfahrungen in ihre neuesten Werke «Damenprogramm», bzw. «Fürchten lernen», eingeflossen sind.
In «Damenprogramm» erzählt die 70-jährige Theres Roth-Hunkeler von zwei Freundinnen, die in einem späteren Lebensabschnitt stehen. Sie thematisiert das Altern direkt, geradezu radikal, aber auch humorvoll.
In «Fürchten lernen» erzählt der 32-jährige Nando von Arb von unterschiedlichen Angsterfahrungen – persönlich gefärbt und doch universell gültig: zarte, aufrüttelnde oder auch absurde Episoden.
Buchhinweise:
* Theres Roth-Hunkeler. Damenprogramm. 256 Seiten. Edition Bücherlese, 2023.
* Nando von Arb. Fürchten lernen. 428 Seiten. Edition Moderne, 2024.
5/12/2024 • 37 minutes, 27 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Béla Rothenbühler und Toxische Pommes
Mit «Polifon Pervers» nimmt Béla Rothenbühler den Schweizer Kulturbetrieb hoch. Mit «Ein schönes Ausländerkind» schreibt die Kabarettistin «Toxische Pommes» über die Gefühle von Migrantenkindern. Und Bestsellerautor David Foenkinos überzeugt mit einem schrecklich-schaurigen Thriller.
Ein paar junge Leute tricksen Stiftungen und staatliche Kulturfonds aus und lassen grosse Summen an Fördergeldern in die eigenen Taschen fliessen. Und die Theateraufführungen und Performances, die ihre kriminellen Machenschaften decken, machen auch noch Furore bei Publikum und Medien. Doch dann beginnen sie, zusätzlich Drogengeld zu waschen. Ob das gut gehen wird? Dem Luzerner Mundartautor Béla Rothenbühler ist mit «Polifon Pervers» eine sehr lustige Satire auf den Schweizer Kulturbetrieb gelungen. Das findet André Perler, der das Buch am Literaturstammtisch empfiehlt.
Auf TikTok, von der Bühne herunter und jetzt auch im Buch. Die österreichische Kabarettistin, TikTokerin und Autorin «Toxische Pommes» erreicht ihr Publikum auf allen Kanälen. Dabei geht es der Juristin um «alltagskulturelle Beobachtungen, in denen sie Kritik mit feministischer und antirassistischer Grundhaltung übt und sich über Sozialmilieus und Doppelmoral amüsiert,» wie sie sagt. In ihrem autofiktionalen Roman «Ein schönes Ausländerkind» erzählt sie die Geschichte einer Familie, die vor dem Jugoslawienkrieg in ein Einwanderungsland flieht, das keines sein möchte. Literaturredaktor Michael Luisier, der das Buch mit grösstem Interesse gelesen hat, stellt das Buch am Literaturstammtisch vor.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Roman «Das Leben meiner Schwester» von David Foenkinos vor. Über Nacht bricht für Mathilde eine Welt zusammen. Ihr zukünftiger Mann will sie nicht mehr heiraten. Eine grosse Liebe aus seiner Vergangenheit radiert die Beziehung mit Mathilde aus. Mathilde steht vor einem Scherbenhaufen. Ein psychologischer Thriller über eine Frau, die zurückgewiesen wird – mit fatalen Folgen!
Buchhinweise:
* Béla Rothenbühler. Polifon Pervers. 200 Seiten. Edition spoken script. Der gesunde Menschenversand, 2024.
* Toxische Pommes. Ein schönes Ausländerkind. 208 Seiten. Zsolnay, 2024.
* David Foenkinos. Das Leben meiner Schwester. Aus dem Französischen von Christian Kolb. 192 Seiten. Penguin, 2024.
Bücher mit ganz unterschiedlichen Geschichten liegen heute auf dem Literaturstammtisch. Darunter ist das neue Buch der Schweizerin Rebekka Salm, ein Roman, der von einer Heldentat im Zweiten Weltkrieg erzählt – und eine Familiengeschichte aus Irland.
«Wie der Hase läuft» ist der zweite Roman der Schweizer Autorin Rebekka Salm. Und dieser sei überaus gelungen, lobt Katja Schönherr. «Spannend und sehr raffiniert gebaut!», lautet ihr Urteil. Im Buch geht es um die miteinander verwobenen Familiengeschichten eines Liebespaars – und darum, dass man lernen muss, mit Leerstellen in der eigenen Vergangenheit zu leben.
«Comandante» der beiden Italiener Edoardo De Angelis und Sandro Veronesi erzählt eine wahre Geschichte, die im Krieg spielt - und doch von der Menschlichkeit handelt. Es geht um den U-Bootkommandant Salvatore Todaro, der sich im Zweiten Weltkrieg über Vorschriften hinwegsetzte, um Feinde vor dem sicheren Tod zu retten. Für Felix Münger ist Todaro gerade in heutiger Zeit, wo zahllose Geflüchtete im Mittelmeer keine Rettung finden, eine Leuchtfigur der Menschenpflicht.
«Der Stich der Biene» ist ein Familienroman, der in einer irischen Kleinstadt angesiedelt ist. Dickie und Imela Barnes führen mit ihren Kindern ein privilegiertes Leben, bis die weltweite Finanzkrise im Jahr 2008 auch in ihre scheinbar heile Welt einbricht. Mit präzisem und gleichzeitig empathischem Blick erzählt der Autor Paul Murray eine tragisch-komische Geschichte. Britta Spichiger gefällt, wie Murray die Leserschaft mit denselben Fragen konfrontiert, die auch seine Figuren umtreiben: was hätte man in der Vergangenheit anders machen können? Und wie wäre es wohl herausgekommen?
Buchhinweise:
* Rebekka Salm. Wie der Hase läuft. 195 Seiten. knapp, 2024.
* Edoardo De Angelis und Sandro Veronesi. Comandante. Aus dem Italienischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. 157 Seiten. Zsolnay, 2024.
* Paul Murray. Der Stich der Biene. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. 700 Seiten. Kunstmann, 2024.
4/30/2024 • 26 minutes, 45 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Rushdie schreibt über Messerattacke!
«Knife» von Salman Rushdie zeigt einen gezeichneten, aber auch kämpferischen Autor. «Zitronen» von Valerie Fritsch handelt von einem Jungen mit dem sogenannten «Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom». Und in «Paris-Trilogie» erzählt Colombe Schneck von einem Frauenleben in drei Kurzromanen.
Gross war die Spannung vor der Veröffentlichung des ersten Buches des britisch-indischen Schriftstellers Salman Rushdie nach der Messerakttacke vom 12. August 2022. Und gross war auch der Medienrummel. Aber ganz abgesehen vom Hype rund um den Autor von «Die satanischen Verse» und 22 anderer Bücher ist mit «Knife – Gendanken nach einem Mordversuch» ein berührendes und lebensbejahendes Werk entstanden, das einen zwar verletzten und gezeichneten, aber auch kämpferischen Salman Rushdie zeigt. Und einen Mann, der erst jetzt die grosse Bedeutung der Liebe für sein Leben erkannt hat, wie Michael Luisier meint.
«Zitronen», der zweite Roman der österreichischen Autorin Valerie Fritsch, handelt von einem Jungen mit dem sogenannten «Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom»: Seine Mutter redet ihm ein, er sei krank und schwach, damit sie einen Grund hat, ihn zu pflegen. Doch als er wieder gesund wird, hält sie ihn weiterhin an, rätselhafte Tabletten zu schlucken, die ihn schwach und Müde machen. Für Simon Leuthold ein überaus bildstarkes, eindringliches Buch über eine Familie, in der sich Zärtlichkeit und Gewalt gegenseitig bedingen.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Roman «Paris Trilogie » von der französischen Schriftstellerin Colombe Schneck vor. Es geht um ein Frauenleben erzählt in drei Romanen. Die Französin verwebt dabei Persönliches mit Erfundenem ganz in der Tradition von Annie Ernaux, die auch Mutter der Autofiktion genannt wird.
Buchhinweise:
* Salman Rushdie. Knife. Gedanken nach einem Mordversuch. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. 256 Seiten. Penguin, 2024.
* Valerie Fritsch. Zitronen. 186 Seiten. Suhrkamp, 2024.
* Colombe Schneck. Paris Trilogie. Ein Frauenleben in drei Romanen. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. 208 Seiten. Rowohlt, 2024.
4/23/2024 • 27 minutes, 38 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Anpassung um jeden Preis?
Mareike Fallwickl spielt in «Und alle so still» das Szenario durch, dass die Frauen alle Arbeit ruhen lassen. «Die Zeit im Sommerlicht» von Ann-Helén Laestadius schildert das Los indigener Kinder in Skandinavien. Und Martin Suter wartet mit einem neuen Krimi auf, in dem alles so ist, wie gehabt.
«Und alle so still» der österreichischen Autorin Mareike Fallwickl handelt von einem weltweiten Care-Aufstand. Sämtliche Frauen legen sich hin und tun nichts mehr, weil sie schlichtweg zu erschöpft sind. Natürlich bricht sofort Chaos aus: Niemand kümmert sich um Alte, Kinder und Kranke. Und die Männer? Sie versuchen mit Gewalt, die Frauen dazu zu zwingen, weiter zu rackern wie bisher. Ein aufwühlendes Gedanken-Experiment, findet Katja Schönherr.
«Die Zeit im Sommerlicht» von Ann-Helén Laestadius bewegt André Perler. Der Roman handelt von einem kaum bekannten dunklen Kapitel in der jüngeren Geschichte Schwedens: von den Nomadenschulen. In diesen Internaten in Nordschweden wurden jahrzehntelang Kinder samischer Rentierzüchter unter Anwendung psychischer und physischer Gewalt brutal aufs Schwedisch-Sein getrimmt – mit schweren Folgen für das Leben der Betroffenen.
«Allmen und Herr Weynfeldt» - so heisst die mittlerweile siebte Episode aus der Krimireihe des Schweizer Erfolgsautors Martin Suter. Im Zentrum steht erneut der chronisch blanke Detektiv Allmen. Dieses Mal ermittelt er in einem Kunstraub im Zürcher Reichenmilieu. Der neue Suter biete die gewohnte leicht verdauliche Unterhaltung, sagt Felix Münger. Wer allerdings von einem Krimi ein gewisses Tempo, überraschende Wendungen oder gar eine Prise Action erwarte, liege damit falsch.
Buchhinweise:
* Mareike Fallwickl. Und alle so still. 368 Seiten. Rowohlt, 2024.
* Ann-Helén Laestadius. Die Zeit im Sommerlicht. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Missfeldt. 475 Seiten. Hoffmann und Campe, 2024.
* Martin Suter. Allmen und Her Weynfeldt. 217 Seiten. Diogenes, 2024.
4/16/2024 • 25 minutes, 20 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Von Menschen und Mäusen
«Das Gras auf unserer Seite» von Stefanie de Velasco, «Klarkommen» von Ilona Hartmann und das soeben mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete «Minihorror» von Barbi Markovic sind die Bücher am Literaturstammtisch diese Woche im BuchZeichen.
Stefanie de Velascos Roman «Das Gras auf unserer Seite» handelt von drei Freundinnen. Keine von ihnen hat je einen Kinderwunsch verspürt. Was sie hingegen alle spüren, ist die Erwartungshaltung der Gesellschaft. Immer wieder müssen sie Stellung dazu beziehen, ob sie nicht endlich einmal Kinder kriegen wollen. Dann wird eine von ihnen schwanger. Ungewollt. Wird sie das Kind behalten? «Das Gras auf unserer Seite» ist ein literarisches – und zugleich sehr unterhaltsames – Beispiel dafür, wie sich Frauen permanent zum Muttersein verhalten müssen. SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr bringt es mit an den Stammtisch.
Ein junger Mensch zieht fürs Studium in die Grossstadt und verspricht sich ein aufregendes Leben: die Jugend auskosten, Party machen, Menschen kennenlernen, viel erleben. Kaum etwas davon tritt ein. Die Erzählstimme realisiert, dass das Leben an sich doch eher langweilig ist, auch weil sie sich selbst im Weg steht. Ilona Hartmann beschreibt das Erwachsenwerden der Millennial-Generation von der Schattenseite her. Für Simon Leuthold ein treffsicher geschriebenes Buch über das jugendlich-wehleidige Lebensgefühl, dass man gerade wahnsinnig viel Wichtiges verpasst, nicht darüber hinwegkommt – und ganz sicher nicht selbst schuld daran ist.
Der Tipp der Woche stammt diese Woche von Michael Luisier. Er empfiehlt «Minihorror» von Barbi Markovic. Darin geht es um Mini und Miki, die allerlei Horrorgeschichten erleben. Wie in einem Comicheft werden kurze und zum Teil reichlich abstruse Anekdoten erzählt, die davon handeln, wie zwei nette Menschen (oder vielleicht auch Mäuse, wer weiss,) versuchen, mit den Zumutungen des Alltags klarzukommen.
Buchhinweise:
* Stefanie de Velasco. Das Gras auf unserer Seite. 250 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2024.
* Ilona Hartmann. Klarkommen. 192 Seiten. park x ullstein, 2024.
* Barbi Markovic. Minihorror. 186 Seiten. Residenz, 2023.
Elisabeth Strout erzählt eine komplexe Familiengeschichte mit grosser Leichtigkeit. Elmore Leonard nimmt uns mit in den Wilden Westen, wo auf Kugel komm raus geballert wird. Und auf der aktuellen SRF-Bestenliste im April stehen alles Bücher, die einen guten Lesefrühling garantieren.
«Am Meer» von Elizabeth Strout handelt von Lucy Barton, einer rund 70-jährigen Schriftstellerin, die mit ihrem Ex-Mann von New York City nach Maine zieht, in ein Haus am Meer, um der Pandemie zu entkommen. In der Einsamkeit blickt sie auf ihr Liebesleben zurück und sorgt sich um ihre längst erwachsenen Töchter. Elizabeth Strout gelinge es, diese komplexe Familiengeschichte in einer einzigartigen Leichtigkeit zu erzählen, meint SRF-Literaturredaktorin Jennifer Khakshouri.
Warum nicht wieder einmal einen Western lesen? So wie früher? Die Gelegenheit bietet aktuell der packende Roman «Letztes Gefecht am Saber River» des US-Amerikaners Elmore Leonard. Der 1959 erschienene Roman liegt jetzt erstmals auf Deutsch vor. Die zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielende Geschichte habe alle Ingredienzien des klassischen Testosteron-Abenteuers im Wilden Westens. Aber nicht nur, findet Felix Münger. Gerade die Frauenfiguren und die Geschlechterrollen seien überraschend modern dargestellt.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König die fünf Bücher vor, die auf der aktuellen SRF-Bestenliste im April stehen. Alle fünf Titel seien ausnehmend gelungene Page-Turner, die jeglichen Anflug von Frühlingsmüdigkeit mit einem Wisch hinwegfegen würden.
Buchhinweise:
* Elizabeth Strout. Am Meer. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. 288 Seiten. Luchterhand, 2024.
* Elmore Leonard. Letztes Gefecht am Saber River. Aus dem Englischen von Florian Grimm. Liebeskind, 2024.
* Gaea Schoeters. Trophäe. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. 256 Seiten. Zsolnay, 2024.
* Iris Wolff. Lichtungen. 256 Seiten. Klett-Cotta, 2024.
* Percival Everett. James. 336 Seiten. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 2024.
* Barbara Kingsolver. Demon Copperhead. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. 846 Seiten. dtv, 2024.
* Anne Weber. Bannmeilen. 301 Seiten. Matthes & Seitz, 2024.
4/2/2024 • 27 minutes, 12 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Der Blick zurück
Der spanische Regisseur Pedro Almodóvar, die deutsche Autorin Slata Roschal und die US-amerikanische Autorin Marie Benedict schauen in ihren neuen Büchern zurück. Es geht um persönliche Erinnerungen oder gesellschaftliche Fragen, jeweils verbunden mit einer individuellen Geschichte.
Schon oft wurde der spanische Regisseur Pedro Almodóvar darum gebeten, seine Autobiografie zu schreiben. Bis jetzt ging er nie darauf ein. Aber nun kommt er diesem Wunsch in Ansätzen nach. Mit zwölf Erzählungen, die Einblick geben in sein Leben, Schreiben und Filmemachen. Sie zeigen, wie sehr alle drei Bereiche miteinander verbandelt sind. Texte aus mehreren Jahrzehnten, die von seiner Assistentin Lola García archiviert wurden. Das Buch lese sich wie ein spritziger, frischer Cocktail, der als Trägersubstanz ganz schön viel Pedro Almodóvar enthalte, findet Annette König, die das Buch am Literaturstammtisch empfiehlt.
Eine junge Frau in einem Hotelzimmer. Das erste Mal seit Jahren ist sie allein verreist. Sie geniesst die Ruhe, sie will nachdenken. Worüber sie nachdenkt? Über ihren anstrengenden und zugleich eintönigen Alltag als Mutter. Stimmt etwas nicht mit mir?, fragt sie sich, wo doch alle Mütter um sie herum scheinbar so glücklich sind. «Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten» von Slata Roschal handelt von einer Frau, die mit ihrem Leben hadert. Ein tristes Thema. Dennoch sei es ein Genuss, dieses Buch zu lesen, findet SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr.
Die britische Biochemikerin Rosalind Franklin hat für die Wissenschaft Bedeutendes geleistet. Dank ihrem Beitrag konnte die menschliche DNA entschlüsselt werden. Die Anerkennung dafür aber bekamen Männer. In ihrem Roman «Das verborgene Genie» erzählt die US-amerikanische Autorin Marie Benedict von einer brillanten Aussenseiterin, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll und ganz der Wissenschaft verschrieb und sich dafür gegen alle möglichen Widerstände durchsetzen musste. Spannende Lektüre, die einen aber auch nachdenklich zurücklässt, findet Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* Pedro Almodóvar. Der letzte Traum. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. 224 Seiten. Suhrkamp, 2024.
* Slata Roschal. Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten. 170 Seiten. Claassen, 2024.
* Marie Benedict. Das verborgene Genie. Aus dem Englischen von Kristin Lohmann. 352 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2024.
3/26/2024 • 26 minutes, 36 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Leben in Bedrängnis
Zwei Romane, die vom gesellschaftlichen Druck auf Individuen erzählen: Von unserem Umgang mit betagten Menschen handelt «Die Arbeiterin» des Franzosen Didier Eribon. Und «Nachbarn» der Afroamerikanerin Diane Oliver schildert die prekäre Lage von Schwarzen in den USA – in den 1960ern wie heute.
Der Schriftsteller, Soziologe und Philosoph Didier Eribon schreibt seine Familiengeschichte weiter. «Eine Arbeiterin: Leben, Alter und Sterben» ist das Portrait seiner Mutter. Eine Mischung aus autobiografischem Schreiben und soziologischem Essay. Eribon beschreibt seine Schuldgefühle, nachdem er die Mutter gegen ihren Willen in ein Pflegeheim einwies. Wie er danach ihre nächtlichen Klagen und Telefonate aushalten musste. Von ihrer Verzweiflung und Vereinsamung hörte. Das Buch sei ebenso «gehaltvoll wie fesselnd», sagt Annette König.
Schwarze in den USA, die für Emanzipation und Gleichberechtigung einstehen – davon erzählen die Erzählungen im Band «Nachbarn» der 1966 verstorbenen US-amerikanischen Autorin Diane Oliver. So schildert sie etwa einen siebenjährigen Knaben, der als erstes Schwarzes Kind auf eine Schule der Weissen muss. Mit feinen, nüchternen Beobachtungen zeige die Autorin, was Rassismus bedeute, sagt Britta Spichiger. Obwohl die Geschichten in den 1960ern spielen, seien sie noch immer aktuell.
Einen Spaziergang durch die Weltliteratur – dies bietet der neue Sammelband «19/21 Synchron global» des Schweizer Literaturwissenschafters Charles Linsmayer. Das Buch versammelt 135 literarische Texte aus verschiedenen Weltregionen. Die thematisch gegliederte Auswahl ermögliche, Unbekanntes zu entdecken. Und dabei zu erfahren, wie unterschiedliche Autorinnen und Autoren zu Urthemen der Menschheit wie Freiheit, Glück oder Natur dachten, sagt Felix Münger.
Buchhinweise:
* Didier Eribon. Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Aus dem Französischen von Sonja Finck. 240 Seiten. Suhrkamp, 2024.
* Diane Oliver. Nachbarn. Aus dem Englischen von Brigitt Jakobeit und Volker Oldenburg. 304 Seiten. Aufbau, 2024.
* Charles Linsmayer (Hrsg.). 19/21 Synchron global, ein weltliterarisches Lesebuch von 1870 bis 2020. 652 Seiten. Th. Gut, 2024.
3/19/2024 • 27 minutes, 6 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Neue niederländische Literatur
Dieses Jahr sind die Niederlande und Flandern Gastland der Leipziger Buchmesse. Auf dem Literaturstammtisch liegen deshalb neue Bücher der Autor:innen Gaea Schoeters, Lize Spit und Mathijs Deen.
Hunter White geht auf Grosswildjagd nach einem der selten gewordenen Spitzmaulnashörner. Dafür hat er eine Lizenz zum Töten ersteigert. Was treibt ihn an? Die Suche nach dem Kick? Die flämische Autorin Gaea Schoeters sucht in ihrem Afrika-Roman «Trophäe» Antworten darauf. Sie beleuchtet nicht nur kritisch das Verhältnis Mensch und Natur, sondern auch die Folgen des Kolonialismus. Gaea Schoeters schreibt mit einer Sprachgewalt, die einem die Nackenhaare aufstellt, findet Annette König.
Jimmy ist ein hervorragender Schüler. Und er ist einsam. Bis Tristan in sein Leben tritt. Dieser hat einen Krieg und eine Flucht nach Belgien hinter sich. Jimmy erhält die Aufgabe, Tristan durch das Schuljahr zu begleiten. Daraus entspinnt die belgische Autorin Lize Spit eine Geschichte über Freundschaft, Fantasie - und Verzweiflung. Der Roman «Der ehrliche Finder» fesselt einen von Beginn weg, sagt Lea Dora Illmer.
März 1995: In einer stürmischen Nacht über der Nordsee gerät ein deutscher Schlepper in Seenot. Die ganze Mannschaft ausser dem Kapitän kann gerettet werden. Ostersonntag, 2016: An der englischen Küste finden zwei Jungen ein Skelett, daneben eine Rettungsweste des deutschen Schleppers, der vor über zehn Jahren in Seenot geraten war. Die sterblichen Überreste des Kapitäns? Kommissar Liewe Cupido übernimmt die Untersuchungen. «Der Retter» ist ein weiterer spannender Fall des sympathischen Ermittlers, findet Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* Gaea Schoeters. Trophäe. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. 256 Seiten. Zsolnay, 2024.
* Lize Spit. Der ehrliche Finder. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. 128 Seiten. S. Fischer Verlag, 2024.
* Mathijs Deen. Der Retter. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. 384 Seiten. mare Verlag, 2024.
3/12/2024 • 24 minutes, 45 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Neues aus der Schweiz
«Das kleine Haus am Sonnenhang» von Alex Capus und «Die hängende Säge» von Alice Schmid - dies die aktuellen Bücher am Literaturstammtisch im BuchZeichen.
In seinem neuen Buch «Das kleine Haus am Sonnenhang» erzählt der Oltner Schriftsteller Alex Capus von persönlichen Erinnerungen aus seiner Zeit in Italien: Im Seitental eines Seitentals im Piemont kaufte sich Capus als junger Mann ein altes Haus und schrieb dort seinen ersten Roman. Nun nimmt er seine Leserschaft mit auf einen Nostalgietrip in die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts. Er erzählt von alltäglichen Begebenheiten und besonderen Begegnungen. Das Buch, das Britta Spichiger am Literaturstammtisch vorstellt, ist eine Liebeserklärung an das kleine Haus am Sonnenhang, an das Schreiben - und das Leben.
Alice Schmid erzählt in ihrem Roman «Die hängende Säge» die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem traumatischen Erlebnis im Jugendsportlager kein Wort mehr sprechen kann. Erst mit einem Sprachaufenthalt in Belgien findet sie langsam zu ihrer Sprache zurück. Nach und nach wird absehbar, dass sie sich immer stärker von ihrem Familienumfeld im bäuerlichen Luzerner Hinterland abnabeln wird. Für Simon Leuthold ein einfühlsam geschriebener Coming-of-Age-Roman darüber, was es heisst, seinen eigenen Weg zu gehen.
Der Buchtipp kommt diese Woche von Michael Luisier. Er empfiehlt das Bändchen «Mir fällt gerade ein... Ein Sammelsurium» mit Tagebucheinträgen des Schauspielers und Sängers Manfred Krug.
Buchangaben:
* Alex Capus. Das kleine Haus am Sonnenhang. 160 Seiten. Carl Hanser Verlag, 2024.
* Alice Schmid. Die hängende Säge. 176 Seiten. Atlantis Verlag, 2024.
* Manfred Krug. »Mir fällt gerade ein« Ein Sammelsurium. 108 Seiten. Kanon, 2024.
3/5/2024 • 21 minutes, 59 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Was aus Freundschaft werden kann
Lana Lux erzählt von Freundschaft, die zur tödlichen Obsession wird. Iris Wolff schreibt über eine, aus der Liebe wird. Und auch die Südkoreanerin Han Kang erzählt von zwei Menschen, die in einer schwierigen Lebensphase langsam zueinander finden.
In der Schule ist Philipp ein Einzelgänger. Bis eines Tages Faina aus der Ukraine in seine Klasse kommt. Plötzlich hat er eine Freundin. Jahre später, als Faina schwanger, verschuldet und obdachlos vor seiner Tür steht, nimmt er sie auf. Doch der Preis, den Faina dafür zahlt, ist hoch. Zunächst gängelt Philipp sie nur, dann beschimpft er sie, dann schlägt er sie – wieder und wieder. «Geordnete Verhältnisse» von Lana Lux ist ein Buch, das einen nicht loslässt, findet SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr. Ein Buch über einen Menschen, der Liebe mit Besitz verwechselt.
Iris Wolff erzählt in ihrem neuen Buch «Lichtungen» gewohnt poetisch von Freundschaft und Liebe zu Zeiten der Diktatur und Wende in Rumänien. Lev und Kato kennen sich seit Kindertagen. Sie sind beide Aussenseiter – Lev gehört der deutschsprachigen Minderheit, Kato kommt aus prekären Verhältnissen. Als das Ceausescu-Regime fällt, geht sie sofort in den Westen. Er bleibt – vorläufig. Was ist Herkunft? Kann man sich von seinen Prägungen lösen? Wie geht man mit Verlusten und Verletzungen um? Diese Fragen stellt sich SRF-Literaturredaktorin Franziska Hirsbrunner bei Iris Wolffs Buch, das sie zur Lektüre wärmstens empfiehlt.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Roman «Griechischstunden» von Han Kang vor. Die Südkoreanerin ist seit ihrem Bestseller «Die Vegetarierin» im deutschsprachigen Raum bekannt. In ihrem neuen Buch erzählt sie uns nun die Geschichte zweier Menschen, die in einer Lebensphase zueinanderfinden, die von grossen Ängsten geprägt ist.
Buchhinweise:
* Lana Lux. Geordnete Verhältnisse. 290 Seiten. Hanser Berlin, 2024.
* Iris Wolff. Lichtungen. 256 Seiten. Klett Cotta, 2024.
* Han Kang. Griechischstunden. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. 204 Seiten. Aufbau, 2024.
2/27/2024 • 26 minutes, 16 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Von Venedig und staatlichem Terror
Schwere Lektüre, aber grosse Literatur: Die Autorin Isabelle Autissier erzählt vom Untergang Venedigs und plädiert leidenschaftlich für unsere Umwelt. Der Schriftsteller Georgi Demidow schildert eindrücklich, was geschieht, wenn man als politischer Gefangener staatlichem Terror ausgeliefert ist.
In ihrem neuen Roman «Acqua Alta» erzählt die französische Autorin Isabelle Autissier von einer gigantischen Welle, die Venedig im Jahr 2021 überschwemmt. Und dies, obwohl das Schleusensystem in der Lagune nach mehr als 17 Jahren Bauzeit und vielen Tests hätte funktionieren sollen. Die Folgen sind verheerend. Die Flut fordert viele Menschenleben. Unter den Überlebenden ist Guido Malegatti, der mit dem Boot durch die Ruinen fährt und nach Frau und Tochter sucht. Isabelle Autissier will mit ihrem fesselnden Roman aufrütteln. «Acqua Alta» sei ein leidenschaftliches Plädoyer für unsere Umwelt, findet Annette König.
Ohnmächtig dem staatlichen Terror ausgeliefert – was dies für einen Betroffenen bedeutet, erzählt der sowjetische Schriftsteller Georgi Demidow in seinem Kurzroman «Fone Kwas oder Der Idiot». Der 1987 verstorbene Autor schildert darin aufgrund eigener Erfahrungen den Horror des stalinistischen Strafsystems. Das Buch ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. Und es sei eine Entdeckung, sagt Felix Münger. Es lasse sich in Vielem auch als Kommentar auf das Leid der Zahllosen lesen, die heute als politische Häftlinge in Kerkern schmachten – in Russland und anderswo.
Ganz andere und leichte Lektüre ist der heutige Kurztipp von Britta Spichiger. «Von nahen Dingen und Menschen» ist eine Sammlung kurzer Texte und Geschichten, in denen der deutsche Autor Hanns-Josef Ortheil aus seinem Alltag und von seinen Erinnerungen erzählt. Er weckt damit die eigenen Assoziationen seiner Leserschaft. Unter anderem schreibt er von der Armbanduhr seines Vaters, wie er die Mode entdeckt hat und was seinen alten Freund Peter auszeichnet. Bei der Lektüre fragt man sich unwillkürlich, was die eigenen Erinnerungsstücke sind – und welche Freundin besonders gut zuhören kann. Ein Buch, über dessen Gesellschaft man sich in (fast) jeder Lebenslage freut.
Buchhinweise
* Isabelle Autissier. Acqua Alta. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. 208 Seiten. mare, 2024.
* Georgi Demidow. Fone Kwas oder Der Idiot. Aus dem Russischen von Irina Rastorgueva und Thomas Martin. 208 Seiten. Galiani, 2023.
* Hanns-Josef Ortheil. Von nahen Dingen und Menschen. 288 Seiten. DuMont, 2024.
2/20/2024 • 28 minutes, 28 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Krankheit, Krieg – und das Küssen
Was ist Gesundheit? Diese Frage stellt Paula Fürstenberg in «Weltalltage». Was richtet Krieg in jungen Menschen an? Davon erzählt die wiederentdeckte Novelle «Fall, Bombe, fall» von Gerrit Kouwenaar. Und warum eigentlich küssen wir uns? Nicht nur wegen der Erotik, zeigt ein neues Sachbuch.
Was bedeutet es, in einem Körper zu «wohnen», der nicht so funktioniert, wie in unserer Welt eben immer alles zu funktionieren hat? Im Roman «Weltalltage» der deutschen Autorin Paula Fürstenberg geht es um eine junge Frau, die seit ihrer Kindheit an unerklärlichen Schwindelanfällen leidet. Halt gibt ihr immerhin die Freundschaft zu Max – bis er an einer Depression erkrankt. Ist sie jetzt plötzlich die «Gesunde»? Ein kluges Buch über Freundschaft, vor allem aber den Alltag mit einer chronischen Erkrankung, findet Katja Schönherr.
Mai 1940. Der siebzehnjährige Niederländer Karel Ruis verfolgt, wie die deutschen Truppen gefährlich näher rücken. Er denkt an Tod und Zerstörung und wünscht sich, dass endlich die Bomben fallen. Dann würde die Gleichförmigkeit der Tage durchbrochen. Dann folgt die Ernüchterung. Die Novelle «Fall, Bombe, fall» von Gerrit Kouwenaar ist ein Antikriegsbuch: Es erzählt von einem Teenager, dem der Krieg die Jugend stielt. Junge Menschen wie Karel Ruis gibt es auch heute leider an vielen Orten. Und deshalb sei das wiederentdeckte Werk aus dem Jahre 1950 auch heute noch aktuell, sagt Annette König.
Das Küssen ist Begrüssungsritual, Ausdruck tieferer Zuneigung und sorgte – zumindest in früheren Jahren – etwa in Filmen immer wieder auch für allgemeine Empörung. Der deutsche Kommunikationswissenschafter Hektor Haarkötter unternimmt in seinem laut Felix Münger «kenntnisreichen und augenzwinkernden» Sachbuch «Küssen – eine berührende Kommunikationsart» einen Streifzug durch die Geschichte. Das Küssen, so liest man, war am Anfang oft rein zeremonieller Natur, wurde dann zwischenzeitlich erotisch hoch aufgeladen – um heute allgemein an Bedeutung zu verlieren. Leider.
Buchhinweise:
* Paula Fürstenberg. Weltalltage, 320 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2024.
* Hektor Haarkötter. Küssen. Eine berührende Kommunikationsart. 288 Seiten. S. Fischer, 2024.
* Gerrit Kouwenaar. Fall, Bombe, fall. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. 125 Seiten. C.H.Beck, 2024.
2/13/2024 • 23 minutes, 28 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Grosse Themen
Einmal das schlimme Schicksal Schweizer Söldner in «Die rote Mütze» von Daniel de Roulet, einmal die dystopischen Vorstellungen der amerikanisch-chinesischen Schriftstellerin C Pam Zhang in «Wo Milch und Honig fliessen». Das das Angebot am Literaturstammtisch im BuchZeichen.
In seinem aktuellen Buch «Die rote Mütze» schildert der Westschweizer Autor Daniel de Roulet das grässliche Los von Schweizer Söldnern in Frankreich zur Zeit der französischen Revolution. Wegen Meuterei werden sie mit Haft, Folter oder gar Hinrichtung bestraft. Verantwortlich für die Menschenschinderei war ein Vorfahre Daniel de Roulets, der nun den Opfern eine Stimme gibt und so gegen die Bluttaten seines Verwandten anschreibt. Ein überaus packender und erhellender Roman, sagt Felix Münger.
Dichter Smog, der die Erde umhüllt, und eine globale Hungersnot. Dieser dystopischen Welt entflieht eine junge Köchin in eine mysteriöse Bergkolonie der italienischen Alpen. Dort gedeiht das ausgestorben Geglaubte noch in Fülle: Frische Erdbeeren, Trüffel, bengalische Tiger. Der Roman, den Lea Dora Illmer an den Literaturstammtisch bringt, ist ein sinnliches Meisterwerk, das fragt: Haben wir ein Anrecht auf Genuss in einer Welt ohne Zukunft?
Auch der Buchtipp dreht sich um grosse Themen. Er beinhaltet lyrische Gegenmittel gegen Leiden wie Eifesucht, Einsamkeit oder Lebensüberdrüssigkeit. Gemeint ist «Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke», die Michael Luisier anlässlich des bevorstehenden 125. Geburtstag des grossen deutschen Schriftstellers zur Wiederentdeckung empfiehlt.
Buchangaben:
* Daniel de Roulet. Die rote Mütze. Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle. 168 Seiten. Limmat, 2024.
* C Pam Zhang. Wo Milch und Honig fliessen. Aus dem Amerikanischen von Eva Regul. 272 Seiten. S. Fischer, 2024.
* Erich Kästner. Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke. 225 Seiten. Neuausgabe. Artium, 2021.
In «Die Entflammten» von Simone Meier geht es um die Erfolgsstory von Vincent van Gogh. In «Der Fluss und das Meer» von Natascha Wodin um das Gefühl von Fremdsein im eigenen Leben. Und in «Nicht ich» von Zeruya Shalev um eine junge Frau, die radikal aufräumt mit Rollen- und Geschlechterklischees.
Vincent van Gogh ist weltberühmt. Ohne seine Schwägerin Jo van Gogh-Bonger würden man den Maler wahrscheinlich gar nicht kennen. Über diese Frau, schreibt eine junge Frau ihren ersten Roman, statt sich an ihre Abschlussarbeit in Kunstgeschichte ans Werk zu machen. In «Die Entflammten» verbindet Kulturjournalistin und Schriftstellerin Simone Meier zwei Frauen unterschiedlicher Generationen. Es ist ihr eine Mischung aus Roman und Doku-Fiktion gelungen, die äusserst unterhaltsam ist.
Natascha Wodin zählt spätestens seit ihrem Erfolgsroman «Sie kam aus Mariupol» von 2017 zu den bekannten deutschen Autorinnen. Ihr aktuelles Buch ist eine Sammlung von fünf längeren Erzählungen, die gemäss Felix Münger direkt ins Herz gehen und Leserinnen und Leser durch ihre literarische Kraft in Bann ziehen. Wie in anderen Büchern drehen sich die Geschichten des Erzählbandes um Figuren, die seelische Verletzungen in sich tragen. Es geht um das Los einer ehemaligen Nachbarin, die völlig verwahrlost. Oder um die Geschichte der eigenen Mutter, die Suizid begangen hat. Oder um eine verlorene Gestalt in der geschlossenen Psychiatrie. Natascha Wodin rührt mit kristallklarer Sprache ans Innerste.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Erstlingsroman «Nicht ich» von der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev vor. Das Buch erschien vor dreissig Jahren und nun zum ersten Mal auf Deutsch. Es ist die radikale Innenansicht einer jungen, wütenden Frau. Sie will weder treue Ehefrau noch aufopfernde Mutter sein. Sie will ein selbstbestimmtes Leben.
Buchhinweise:
* Simone Meier. Die Entflammten. 272 Seiten. Kein & Aber, 2024.
* Natascha Wodin. Der Fluss und das Meer. Erzählungen. 192 Seiten. Rowohlt, 2023.
* Zeruya Shalev. Nicht ich. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. 208 Seiten. Berlin Verlag, 2024.
1/30/2024 • 26 minutes, 47 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Von Empathie und Einsamkeit
Beide Bücher auf dem heutigen Literaturstammtisch kommen aus Österreich. Monika Helfer erzählt in «Die Jungfrau» von einer intensiven Frauenfreundschaft und vom Umgang mit der Einsamkeit. David Fuchs stellt in seinem aktuellen Buch «Zwischen Mauern» die Frage, ob es bedingungslose Empathie gibt.
Zwei Jugendfreundinnen begegnen sich nach einem halben Jahrhundert wieder. Gloria und Monika. Die eine hat Familie und Erfolg als Schriftstellerin, die andere lebt einsam in ihrer riesigen Villa. Monika beschliesst, über Gloria zu schreiben. Das Resultat ist ein schonungsloses, aber liebevolles Portrait einer Frauenfreundschaft – von den sechziger Jahren bis heute. Lea-Dora Illmer stellt Monika Helfers neues Buch «Die Jungfrau» vor.
Im Roman «Zwischen Mauern» ist Meta auf der Suche nach Sinn. Als ehrenamtliche Mitarbeiterin verschlägt es sie in ein Pflegeheim, das kaputtgespart wurde und vor der Schliessung steht. Meta wird dort Nachtwache halten – und zwar am Bett eines sterbenden Mannes, der zu schreien beginnt, sobald es dunkel wird. Als Meta mehr von der Geschichte dieses Mannes erfährt, steht sie vor der Frage: Verdienen auch böse Menschen in ihren letzten Tagen liebevolle Zuwendung? Katja Schönherr bringt das Buch an den Literaturstammtisch.
Im heutigen Kurztipp empfiehlt Britta Spichiger den neuen Roman der US-Autorin Jeannette Walls, «Vom Himmel die Sterne». Walls erzählt darin die fiktive Geschichte von Sally Kincaid. Eine unerschrockene, starke Frau, die in den 1920-er Jahren erkennt, dass ihre Familie nur überlebt, wenn sie mit illegal selbstgebranntem Whisky handelt. Und so stellt sie – allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz – ihre eigenen Regeln auf und wird zur «Königin der Kincaid-Schmuggler».
Buchhinweise:
* David Fuchs. Zwischen Mauern. 223 Seiten. Haymon, 2023.
* Monika Helfer. Die Jungfrau. 152 Seiten. Carl Hanser, 2023.
* Jeannette Walls. Vom Himmel die Sterne. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. 448 Seiten. Hoffmann und Campe, 2023.
«Die Stadt und ihre ungewisse Mauern» von Haruki Murakami, «Weiss» von Sylvain Tesson und «Mir geht es gut, wenn nicht heute, dann morgen» von Dirk Stermann – dies die drei aktuellen Bücher am SRF1 Literaturstammtisch.
Haruki Murakamis neuer Roman «Die Stadt und ihre ungewisse Mauern» spielt in zwei Welten: in einer geheimnisvoll-magischen sowie in einer realen Kleinstadt. In der magischen Welt ist vieles anders als in der realen. Die Menschen haben keine Schatten, die Uhren keine Zeiger, und immer wieder trifft man auf Einhörner, die sterben, wenn es schneit. Ein namenloser Erzähler folgt seiner Jugendliebe an diesen merkwürdigen Ort, um später wieder in die reale Welt zurückzukommen. Jennifer Khakshouri, die das Buch auch für den Literaturclub gelesen hat, lobt Murakamis Sprache, zieht sonst aber eine durchzogene Bilanz.
Der französische Reiseschriftsteller Sylvain Tesson hat für sein Nature Writing schon bedeutende Preise erhalten, u.a. den Prix Renaudot für «Der Schneeleopard». In seinem neuen Reisebericht «Weiss» schildert Sylvain Tesson die Geschichte einer Alpenüberquerung von Menton nach Triest, über Italien, die Schweiz, Österreich und Slowenien. Eine 1.600 Kilometer lange Expedition zwischen Himmel und Erde. Und ein Buch wie eine Meditation, findet Annette König.
Der Buchtipp der Woche schliesslich stammt von Michael Luisier. Er empfiehlt den Roman über die österreichisch-amerikanische Psychoanalytikerin Erika Freeman «Mir gehts gut, wenn nicht heute, dann morgen» des Schriftstellers und Fernsehkomikers (Willkommen Österreich) Dirk Stermann.
Buchhinweise:
* Haruki Murakami. Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 640 Seiten. Dumont, 2024.
* Sylvain Tesson. Weiss. Aus dem Französischen von Nicola Denis. 256 Seiten. Rowohlt, 2023.
* Dirk Stermann. Mir geht es gut, wenn nicht heute, dann morgen. 255 Seiten. Rowohlt, 2023.
1/16/2024 • 21 minutes, 26 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Wenn das Leben schwer wiegt
Tijan Sila erzählt von seinen Kriegserinnerungen in Sarajevo, die ihn als Kind geprägt haben. David Bielmann schildert wie seine Grossmutter von ihrer Familie weggenommen wurde. Und Cho Nam-Joo berichtet über eine junge Südkoreanerin, die unter starren gesellschaftlichen Konventionen heranwächst.
Der deutsche Autor Tijan Sila wurde 1981 in Sarajevo geboren. Als er 11 Jahre alt war, erlebte er, wie seine Stadt während des Bosnienkriegs eingekesselt wurde. Drei Jahrzehnte später erinnert er sich in seinem autobiografischen Werk «Radio Sarajevo» an das Grauen der Blockade, die knapp vier Jahre dauerte. Für Felix Münger überzeugt das Buch durch seine «radikale Subjektivität»: Tijan Sila schildert durch die Augen des damaligen Kindes, was der permanente Beschuss, der Hunger, die Kälte und die Allgegenwart des Todes in der eingeschlossenen Stadt bedeutete – und dass er damals aufhörte zu weinen.
Der Freiburger Autor David Bielmann erzählt im historischen Roman «Angelina. Verlorene Familie» die Geschichte seiner Grossmutter und ihrer Vorfahren und damit ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte. Bielmanns Grossmutter, Angelina, war eines der über 600 Opfer des Hilfswerks «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute (1926-1973): Sie wurde von ihrer als «Vaganten» verrufenen Familie in Graubünden weggenommen und erlebte in der Folge eine schlimme Odyssee durch Kinderheime und Besserungsanstalten. In eindrücklichen Schlaglichtern schildert Bielmann die Geschichte einer Familie, die von Staat und Gesellschaft immer wieder zutiefst unmenschlich behandelt wurde. Das hat André Perler beeindruckt. Er bringt das Buch an den Literaturstammtisch mit.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Roman «Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah» von Cho Nam-Joo vor. Die Südkoreanerin wurde im deutschsprachigen Raum mit ihrem Weltbestseller «Kim Jiyoung, geboren 1982» bekannt. In ihrem neuen Roman erzählt sie von einem Frauenleben in Südkorea, das geprägt ist von Armut und der Scham, mit 30 noch unverheiratet zu sein.
Buchhinweise:
* Tijan Sila. Radio Sarajevo. 175 Seiten. Hanser Berlin, 2023.
* David Bielmann. Angelina. Verlorene Familie. 242 Seiten. Zytglogge, 2023.
* Cho Nam-Joo. Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah. Aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks. 288 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2024.
1/9/2024 • 27 minutes, 44 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Neues Glück in der Fremde?
Seit 15 Jahren erzählen Auslandschweizerinnen und -schweizer in der Rubrik «Die fünfte Schweiz» am Sonntagvormittag auf SRF 1 aus ihrem Alltag. Aus diesem Anlass liegen auf dem Literaturstammtisch Bücher über Auswandererschicksale - Werke von Therese Bichsel, Pedro Lenz und Gabrielle Alioth.
1821 wanderten rund 170 Menschen aus Bern und Neuenburg nach Kanada in die Gegend des heutigen Winnipeg aus. Ein verschuldeter Berner Patrizier hatte sie mit grossen Versprechungen angeworben. Doch statt eines besseren Lebens erwartete sie am Roten Fluss bittere Not. Diese wahre Geschichte erzählt die Schweizer Autorin Therese Bichsel in ihrem Roman «Überleben am Red River». Franziska Hirsbrunner gefällt unter anderem der Reichtum an packenden Details, mit dem das Werk aufwartet.
Der Schweizer Pedro Lenz hat mit «I bi meh aus eine» im Berner Dialekt die wundersame, aber wahre Geschichte des Hochstaplers Peter Wingeier aus dem Emmental aufgeschrieben. Der Schweizer wanderte im 19. Jahrhundert nach Argentinien aus, nahm eine falsche Identität als Arzt an und gründete sein eigenes Dorf «Romang». Wingeier sei zwar nicht sympathisch, findet Markus Gasser. Doch Pedro Lenz zeichne seine Figur dennoch als «liebe Siech» - und erweise sich dadurch einmal mehr als «unverbesserlicher Menschenfreund».
Dass die Schweiz lange Zeit ein Auswanderungsland war, geht gerne vergessen. Die Schweizer Autorin Gabrielle Alioth, die selbst seit 1984 in Irland lebt, erzählt in ihrem Sachbuch «Ausgewandert» Geschichten von Menschen aus sieben Jahrhunderten, welche die Schweiz verliessen und im Ausland das Glück suchten. Felix Münger ist beeindruckt von der Unterschiedlichkeit der Schicksale: Die einen trieb die Leidenschaft in die Fremde, andere die pure wirtschaftliche Not. Und dann gab es Menschen, die glaubten, in der Fremde das Paradies zu finden.
Buchhinweise:
* Gabrielle Alioth. Ausgewandert. Schweizer Auswanderer aus 7 Jahrhunderten. 193 Seiten. Faro, 2014.
* Therese Bichsel. Überleben am Red River, 361 Seiten. Zytglogge, 2018.
* Pedro Lenz. I bi meh aus eine. 75 Seiten. Cosmos, 2013.
1/2/2024 • 27 minutes, 10 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Prosaische Passionen - Kleine Probleme
Kurz vor Silvester liegen auf dem Literaturstammtisch zwei Bücher, die gute Begleiter sind für die Zeit zwischen den Jahren: eine inspirierende Geschichtensammlung von Autorinnen aus aller Welt und ein amüsanter Roman über «Aufschieberitis».
Hundertundeine Geschichte von hundertundeiner Frau. Das bietet der Sammelband «Prosaische Passionen» des Manesse-Verlags, herausgegeben von Sandra Kegel. Darin wird zum ersten Mal die ganze weibliche Seite der klassischen Moderne präsentiert. Neben Stars wie Katherine Mansfield oder Virginia Woolf sind auch viele neu- und wiederzuentdeckende grossartige Autorinnen aus der ganzen Welt vertreten.
Ein enorm wichtiges Werk auch für die Literatur selbst, die nun endlich in einer ihrer innovativsten Phasen eine weibliche Seite bekommt, findet Michael Luisier. Er richtet diese Anthologie gerade für den Vorlesetag am 2. Januar 2024 auf SRF2 Kultur ein.
31. Dezember. Lars, ein 49-jähriger Grübler, will bis zum Jahreswechsel noch allerhand schaffen: Steuererklärung, Wohnung putzen, das neue Bett für die Tochter zusammenschrauben, die Regenrinne leeren, den Vater anrufen und, ja, das eigene Lebenswerk schreiben
Natürlich ist dieses Unterfangen aussichtslos. Aber Lars lesend dabei zuzuschauen, wie er versucht, in wenigen Stunden doch noch alles hinzukriegen – das ist hochamüsant.
Literaturredaktorin Katja Schönherr ist begeistert von Nele Pollatscheks Buch «Kleine Probleme». Unterhaltung mit Tiefgang!
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger die Graphic Novel «Sofies Welt» vor. Mit dem gleichnamigen Titel landete der norwegische Autor Jostein Gaarder vor 30 Jahren einen Weltbestseller. Die beiden Illustratoren Vincent Zabus und Nicoby haben die Geschichte nun in die Gegenwart geführt: aus der braven Sofie von einst, die die grossen Philosoph:innen trifft, ist eine kritische geworden, die mit grossen Denker:innen Themen wie Rassismus, Feminismus oder Klimawandel diskutiert.
Eine moderne, gelungene, humorvolle und engagierte Version des Originals – empfehlenswert zum Austausch zwischen den Generationen.
Buchangaben
Sandra Kegel (Hrsg.). Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in 101 Short Storys. 928 Seiten. Manesse 2022.
Nele Pollatschek. Kleine Probleme. 208 Seiten. Galiani Berlin 2023.
Nicoby und Vincent Zabus, nach einem Roman vo Jostein Gaarder. Sofies Welt. Übersetzt von Ina Kronenberger, Hanser 2023.
12/26/2023 • 25 minutes, 8 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Für unter den Weihnachtsbaum
Die Dänin Stine Pilgaard erzählt beglückend von vier Generationen, die unter einem Dach leben. Der Deutsche Deniz Utlu begibt sich in seinem neuen Roman auf eine liebevolle Vatersuche. Und der Mexikaner Jorge Zepeda Patterson schreibt über die Tour de France, die eine düstere Wendung nimmt.
Ein Genossenschaftshaus in Aarhus, vier Generationen unter einem Dach. Dort bezieht eine junge Frau, die Lieder dichtet und Horoskope schreibt, mit ihrem Partner die erste gemeinsame Wohnung. Allmählich öffnet die Nachbarschaft der Neuzugezogenen ihre Türen. Die Menschen erzählen ihr ihre (Liebes)Leben. «Lieder aller Lebenslagen» von Stine Pilgaard ist ein beglückendes Buch. Fast wie ein Adventskalender findet Lea Dora Illmer. Sie empfiehlt das Buch am Literaturstammtisch.
«Vaters Meer» erzählt aus der Sicht von Yunus, der in Hannover als Sohn türkischstämmiger Eltern aufwuchs. Eine Spurensuche nach seinem Vater, der nach zwei Schlaganfällen und anschliessender Lähmung in Yunus Jugend verstorben ist. Ein beeindruckendes Buch über Herkunft und das Erzählen, findet Simon Leuthold.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Thriller «Das Schwarze Trikot» vom Mexikaner Jorge Zepeda Patterson vor. Darin geht es um die Tour de France und einen Mörder, der die Radfahrprofis auf Touren bringt.
Buchhinweise:
* Stine Pilgaard. Lieder aller Lebenslagen. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. 208 Seiten. Kanon, 2023.
* Deniz Utlu. Vaters Meer. 384 Seiten. Suhrkamp, 2023.
* Jorge Zepeda Patterson. Das Schwarze Trikot. 416 Seiten. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Elster, 2023.
12/19/2023 • 25 minutes, 5 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Bernhard Schlink und René Maran
Auf dem Literaturstammtisch liegen heute Bücher, die sich mit existentiellen Fragen befassen: Wie reagiert man auf eine schlechte Diagnose? Welche Auswirkungen hat Rassismus auf die Psyche? Die beiden Autoren Bernhard Schlink und René Maran suchen Antworten.
Martin, 76, erfährt, dass er nur noch ein halbes Jahr zu leben hat. Diagnose: Bauchspeichelkrebs. Was kann er in dieser Zeit noch tun? Was kann er seinem sechs Jahre alten Sohn hinterlassen? Erinnerungen, Werte, Lebenseinsichten? Martin wird aktiv. Er lässt sich nicht vom bevorstehenden Tod unterkriegen und entdeckt, dass auch das späte Leben für ihn wunderbare Momente bereithält.
«Das späte Leben» von Bernhard Schlink sei eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Leben und Tod, findet Annette König.
Der 1960 in Paris verstorbene französische Autor René Maran ist bei uns weitgehend vergessen. Und dies, obwohl er der erste Schwarze war, der in den Zwanzigerjahren den höchsten Literaturpreis Frankreichs erhielt, den Prix Goncourt.
Jetzt ist zum ersten Mal Marans Roman «Ein Mensch wie jeder andere» auf Deutsch erschienen. Das Buch vereine sprachliche Schönheit mit thematischer Relevanz: Es zeige die Auswirkungen des Rassismus bis in die Psyche, sagt Felix Münger.
Im Kurztipp empfiehlt Britta Spichiger den Kurzkrimi «Der Schwimmer» des irischen Autors Graham Norton: Die 72-jährige Helen Beamish beobachtet von ihrem Meeresgarten an der irischen Küste aus einen Schwimmer, der nicht zurückkehrt. Sie stellt Nachforschungen an – und alles stellt sich als ganz anders heraus, als es scheint. Ein klassischer, gut geschriebener Krimi, der liebevoll auch von allzu Menschlichem erzählt.
Buchhinweise
* Bernhard Schlink. Das späte Leben. 240 Seiten, Diogenes, 2023.
* René Maran. Ein Mensch wie jeder andere. Aus dem Französischen von Claudia Marquardt, 208 Seiten. Elster & Salis, 2023.
* Graham Norton. Der Schwimmer. Ais dem Englischen von Silke Jellinghaus. 112 Seiten. Kindler, 2023.
12/12/2023 • 27 minutes, 48 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Dezembertipps
Aktuelles zur Vorweihnachtszeit: Der Roman «Taormina» von Yves Ravey, der Thriller «Prophet» von Helen Macdonald und Sin Blaché und die tragikomische Weihnachtsgeschichte «Weihnachten in Prag» von Jaroslaw Rudiš und Jaromír99 diese Woche am BuchZeichen-Literaturstammtisch.
Der Franzose Yves Ravey legt mit seinem Roman «Taormina» eine Parabel auf die moderne Welt vor: Das Buch schildert ein Ehepaar in der Krise, das im sizilianischen Ferienort Taormina Ruhe und Erholung sucht. Daraus wird allerdings nichts: Das Paar überfährt in der Dunkelheit ein Migrantenkind und begeht Fahrerflucht. Die beiden werden nun ihrerseits zu Geflüchteten. Für Felix Münger ist das Verhalten des Paars ein Sinnbild für den Umgang Europas mit der globalen Migration und der ihr innenwohnenden menschlichen Tragik.
Wie gefährlich ist Nostalgie? Diese Frage stellt der Science-Fiction Thriller «Prophet». Helen Macdonald und Sin Blaché haben ihn gemeinsam während des Corona-Lockdowns geschrieben. Als im ländlichen England kurz nacheinander ein amerikanisches Diner ohne Stromanschluss und eine Leiche auftauchen, werden zwei eigentümliche Geheimagenten herbeigezogen. Ein Page-Turner mit genauso geistreichen wie witzigen Dialogen, findet Lea Dora Illmer.
Der Buchtipp der Woche stammt diesmal von Michael Luisier. Er empfiehlt die Weihnachtsgeschichte «Weihnachten in Prag» von Jaroslav Rudiš und Jaromír99, in der ein Kavka mit «V», ein König von Prag und eine Stella aus Milano mit einem Erzähler zusammen von Kneipe zu Kneipe ziehen. Natürlich vor dem Hintergrund eines wunderschönen, romantisch-verschneiten Prag.
Buchhinweise:
* Yves Revey. Taormina. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. 112 Seiten. liebeskind, 2023.
* Helen Macdonald und Sin Blaché. Prophet. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. 528 Seiten. Hanser, 2023.
* Jaroslav Rudiš. Weihnachten in Prag. 96 Seiten mit Illustrationen von Jaromír99. Luchterhand, 2023.
12/5/2023 • 25 minutes, 6 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Erschütterungen
Drei Bücher stehen am Stammtisch zur Debatte: Philippe Djians erster Klimaroman «Ein heisser Sommer», die wiederentdeckten «Novemberschwestern» von Josephine W. Johnson über die Not zur Zeit der Wirtschaftskrise und Klaus Merz Buch «Noch Licht im Haus», das ebenso irritiert wie verzaubert.
Philippe Djian gilt seit seinem Roman «Betty Blue» aus dem Jahr 1985 als Kultautor. Doch seither hat sich der Franzose in Stil und Themenwahl weiterentwickelt. Sein neues Buch «Ein heisses Jahr» ist sein erster Klimaroman überhaupt. Doch trotzt Schwerpunkt auf Ökologie bleibe Djian auch jetzt seinem Leitmotiv treu, sagt Annette König: Erneut sei die oft schwierige Beziehung zwischen Mann und Frau ein Thema. «Ein heisses Jahr» spielt im Jahr 2030. Die globale Klimaerwärmung hat sich intensiviert. Greg arbeitet in einer Firma, die Pestizide herstellt. Doch die Firma gerät in Verdacht, Berichte zu fälschen und Greg ist beteiligt daran. Doch dann verliebt sich Greg in die Umweltaktivistin Vera, was alles verändert.
Der Roman «Die Novemberschwestern» der 1990 verstorbenen US-Amerikanerin Josephine W. Johnson schildert drei Schwestern auf einer einsamen Farm in den USA. Wegen der Wirtschaftskrise kämpft die Familie ums Überleben. Dann zieht ein junger Mann ein, der die rigiden Verhältnisse aufbricht. Für ihr Debüt «Die Novemberschwestern» gewann Josephine W. Johnson 1935 gerade mal 24jährig den renommierten Pulitzer-Preis. Die packende Wiederentdeckung sei in vielem aktuell, sagt Franziska Hirsbrunner, zum Beispiel in der der Frage nach der Ausbeutung von Mensch und Natur.
Der Schweizer Dichter Klaus Merz hat seine Ankündigung zu seinem 70. Geburtstag nicht wahrgemacht, nämlich aufhören zu schreiben. Zum Glück, findet Felix Münger. Klaus Merz neuster Band «Noch Licht im Haus» mit Lyrik und kurzen Prosatexten biete literarischen Zauber pur: Hochgradig verdichtet und voller poetischer Kraft beschwört Klaus Merz das Schöne im Augenblick, Erinnerungen oder Sehnsuchtsträume.
Buchhinweise:
* Philippe Djian. Ein heisses Jahr. Aus dem Französischen von Norma Cassau. 240 Seiten. Diogenes, 2023.
* Josephine W. Johnson. Die Novemberschwestern. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. 222 Seiten. Aufbau, 2023.
* Klaus Merz. Noch Licht im Haus. Gedichte und kurze Geschichten. 105 Seiten. Haymon, 2023.
11/28/2023 • 27 minutes, 47 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Überleben
Lauren Groff erzählt vom Überlebenskampf eines Waisenmädchens in der Wildnis. Elena Fischer schildert die Trauer eines Mädchens, das über den Tod der Mutter hinwegzukommen versucht. Und Atsuhiro Yoshida beschreibt, was der Mensch zum Überleben braucht: Liebe, Gemeinschaft und Anteilnahme.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Lauren Groff hat mehrere Romane und Kurzgeschichten geschrieben und hatte damit immer grossen Erfolg. Zu ihren prominentesten Fans gehört Barack Obama. Lauren Groffs neuster Roman «Die weite Wildnis» gilt als Meisterwerk. Darin beschreibt die Autorin den Überlebenskampf einer jungen Frau im Wald an der Ostküste der USA, im 17. Jahrhundert. Ein «Robinson Crusoe» aus weiblicher Perspektive? Diese Frage stellt sich Jennifer Khakshouri, die das Buch am Stammtisch empfiehlt.
Mit ihrem Debütroman «Paradise Garden» landete die 36-jährige Deutsche Elena Fischer einen Coup: beste Kritiken rundherum, Nominierung für den Deutschen Buchpreis. Tatsächlich sei die Coming-of-Age-Geschichte herzzerreissend und herzergreifend, findet Felix Münger. Im Zentrum steht die 14-jährige Billie, die mit ihrer Mutter in einer Hochhaussiedlung lebt, in prekären Verhältnissen. Als die Mutter stirbt beginnt die Teenagerin ihren tabuisierten Vater zu suchen – und begibt sich auf eine Reise zu sich selbst.
Im heutigen Kurz-Tipp stellt Annette König den Episodenroman «Gute Nacht, Tokio» von Atsuhiro Yoshida vor. Tokio, nachts um eins. Eine Filmrequisiteurin, eine Telefonseelsorgerin, ein Privatdetektiv, eine angehende Schauspielerin, ein Barkeeper sind noch wach. Was sie alle verbindet: ihre nächtlichen Fahrten mit dem hilfsbereiten Taxifahrer Matsui. Ein Buch voller warmer Menschlichkeit.
Buchhinweise:
* Lauren Groff. Die weite Wildnis. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. 288 Seiten. Claassen, 2023.
* Elena Fischer. Paradise Garden. 352 Seiten. Diogenes, 2023.
* Atsuhiro Yoshida. Gute Nacht, Tokio. Aus dem Japanischen von Katja Busson. 191 Seiten. hanserblau, 2023.
11/21/2023 • 27 minutes, 12 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Shortlist Schweizer Buchpreis 2023
Eine Autorin und vier Autoren sind dieses Jahr auf der Shortlist vertreten. Die nominierten Bücher befassen sich mit unterschiedlichen Themen: von existentiellen über gesellschaftliche und historische bis zu persönlichen Fragen.
Wie verlässlich ist das, was wir wahrnehmen? Der renommierte Schweizer Schriftsteller Christian Haller stellt diese Frage in das Zentrum seiner Novelle «Sich lichtende Nebel». In seiner ruhigen, präzisen und gleichzeitig eindringlichen Sprache erzählt Haller die Geschichte zweier Männer, deren Leben sich durch einen Zufall kreuzen.
In seinem Roman «Mr. Goebbels Jazz Band» rückt Demian Lienhard eine Band in den Fokus, die es tatsächlich gegeben hat: auf Geheiss des NS-Propagandaministers Goebbels unterhielt sie die Menschen mit Swing – und englischsprachigen, pro-deutschen Propagandatexten. Es sei ein Lehrstück, wie Propaganda funktioniere, sagt Lienhard zum historischen Stoff.
Sarah Elena Müller erzählt in ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» von sexuellem Kindsmissbrauch. Ein Mädchen besucht seinen Nachbarn regelmässig, er filmt sie, die Eltern schauen weg. Was sie an dieser erschütternden Geschichte besonders interessiere, sagt Müller, sei die Frage der Verantwortung.
«Glitsch» - der Buchtitel spielt auf Fehler in einem Computerspiel an: wenn die virtuelle Wirklichkeit verzerrt ist. In seinem Roman nun führt Adam Schwarz diese Idee weiter und erzählt von einer Kreuzfahrt, die in einer verschobenen Wirklichkeit stattfindet. Mit einer Gesellschaft, die sich weigert, sich der Realität zu stellen.
Matthias Zschokke widmet seinen Roman «Der graue Peter» einem alternden Mann der Schweizer Mittelschicht. Nach Schicksalsschlägen taumelt er durch sein Leben – da wird ihm in einem Zug in Frankreich überraschend ein unbekannter kleiner Junge anvertraut. Skurrile Begebenheiten folgen, und der Eigenbrötler zeigt wider Erwarten Empathie.
Katja Schönherr und Lea-Dora Illmer aus der SRF-Literaturredaktion stellen die fünf nominierten Bücher im Gespräch mit Britta Spichiger vor.
Buchhinweise:
* Christian Haller. Sich lichtende Nebel. 128 Seiten. Luchterhand, 2023.
* Demian Lienhard. Mr. Goebbels Jazz Band. 320 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt, 2023.
* Sarah Elena Müller. Bild ohne Mädchen. 208 Seiten. Limmat, 2023.
* Adam Schwarz. Glitsch. 296 Seiten. Zytglogge, 2023.
* Matthias Zschokke. Der graue Peter. 176 Seiten. Rotpunktverlag, 2023.
11/14/2023 • 29 minutes, 21 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Grosse Namen
Der Literaturstar Paul Auster als Autor des Romans «Baumgartner» und der Jahrhundertschriftsteller Joseph Roth als Protagonist in Lea Singers «Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe» sind nur zwei der grossen Namen, die im aktuellen BuchZeichen eine Rolle spielen.
Er war einer der ganz grossen deutschsprachigen Schriftsteller seiner Zeit, geboren in einer jüdischen Kleinstadt am Rand des Habsburgerreichs. Sie entstammte einer gutbürgerlichen Hamburger Familie, hatte afrokubanische Wurzeln und brachte sich und ihre Kinder als alleinerziehende Mutter mit Grafik- und Redaktionsarbeiten über die Runden. Joseph Roth und Andrea Manga Bell waren von 1929-1936 ein Paar. Nach der Machtergreifung der Nazis waren sie beide akut gefährdet. Die deutsche Schriftstellerin Lea Singer erzählt im Roman «Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe» ihre Liebesgeschichte so, dass sich ganz viele Bezüge zur Gegenwart ergeben.
«Baumgartner», so heisst der neue Roman des Literatur-Stars Paul Auster. Und so heisst zugleich die Hauptfigur des Buchs. Seymour Baumgartner ist alternder Philosophie-Professor. Vor einigen Jahren hat er seine Frau verloren. Seither trauert er um sie. Nach einem Morgen voller Pannen beginnt er, sein Leben Revue passieren zu lassen. Über dem Roman schwebt die Frage: Was bleibt von einem, wenn man gestorben ist? Literaturredaktorin Katja Schönherr ist froh, dass es Paul Auster trotz seiner Krebserkrankung gelungen ist, dieses Buch fertigzustellen.
Auch im Buchtipp geht es um einen grossen Namen: Anlässlich des Erscheinens des «neuen» Beatles-Songs «Now and Then» empfiehlt Michael Luisier die bisher letzte bedeutende Beatles-Biografie: «One Two Three Four» von Craig Brown.
Buchhinweise
* Lea Singer. Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe. 304 Seiten. Kampa Verlag, 2023.
* Paul Auster. Baumgartner. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. 208 Seiten. Rowohlt, 2023.
* Craig Brown. One. Two. Three. Four. Die fabelhaften Jahre der Beatles. Aus dem Englischen von Conny Lösch. 670 Seiten mit 55 Abbildungen. C.H. Beck, 2022.
11/7/2023 • 23 minutes, 57 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Milena Moser und Philipp Oehmke
Milena Mosers neuer Roman «Der Traum vom Fliegen» erzählt unter anderem von der Kraft von Freundschaft. Philipp Oehmkes Debüt ist eine Familiengeschichte nach US-amerikanischem Vorbild.
Im Roman «Der Traum vom Fliegen» wird Sofia, 20, Studentin, von ihren Vätern in die Privatklinik Los Pajaritos an der Nordwestküste der USA gebracht. Dort soll ihr Übergewicht behandelt werden. Während der Pandemie hat Sofia mehr als 30 Kilo zugenommen. Auch leidet sie unter Müdigkeit und ist vergesslich. Doch was ihre Väter nicht wissen: Sofias Gewichtszunahme ist Kalkül. Sie will nicht wieder die Bodenhaftung verlieren, weil ihr Traum vom Fliegen zu «real» geworden ist. In den täglichen Gruppentherapien trifft sie auf andere Klinikgäste, die ihre Strategie durchschauen. Gegenseitig helfen sie einander, um wieder Fuss im Leben zu fassen.
In «Schönwald», dem Debütroman des deutschen Journalisten Philipp Oehmke, muss sich die wohlsituierte Familie Schönwald ihrer Vergangenheit stellen: Plötzlich der Vorwurf, ihr Wohlstand komme hauptsächlich von Grossvater Schönwald, und der sei ein alter Nazi gewesen. Für Schönwalds, die es nicht gewohnt sind, über ihre Probleme zu sprechen, eine Katastrophe. In der Folge bricht bei allen Familienmitgliedern noch sehr viel Anderes hervor, das sie bisher sorgsam vor ihren Verwandten verheimlicht haben. Ein abgründiger deutscher Familienroman nach US-amerikanischem Vorbild, der einen beim Lesen immer tiefer ins Familiengestrüpp hineinzieht.
Grossartige Passagen über Schönheit und Brutalität der Natur. Das zeichnet den Roman «So weit der Fluss uns trägt» vor allem aus. In ihrem Debüt erzählt die US-Amerikanerin Shelley Read von einem jungen Mädchen, das schwanger wird und in die Einsamkeit der Berge flüchten muss. Die Natur ist in diesem Roman also fast wie eine Figur – und gleichzeitig Schauplatz für die Geschichte einer starken Frau, die mutig ihren Weg geht. Zu einer Zeit, in der Mitte des letzten Jahrhunderts, als das alles andere als selbstverständlich ist.
Buchhinweise:
* Milena Moser. Der Traum vom Fliegen. 384 Seiten. Kein & Aber, 2023.
* Philipp Oehmke. Schönwald. 544 Seiten. Piper, 2023.
* Shelley Read. So weit der Fluss uns trägt. Aus dem Amerikanischen von Wibke Kuhn. 368 Seiten. C. Bertelsmann, 2023.
10/31/2023 • 27 minutes, 18 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Neues aus der Schweiz
Mit Gianna Molinaris «Hinter der Hecke die Welt» und Theres Roth-Hunkelers «Damenprogramm» sind zwei aktuelle Romane aus der Schweiz Thema am BuchZeichen-Literaturstammtisch. Dabei geht es um zwei unterschiedliche, doch gleichermassen existenzielle Themen.
Die Arktis, in der das Eis schmilzt, und ein abgelegenes Dorf, in dem nichts mehr wächst ausser der Hecke drumherum. Das sind die beiden Schauplätze im aktuellen Roman der Schweizer Autorin Gianna Molinari. «Hinter der Hecke die Welt» heisst er und handelt unter anderem vom menschlichen Eingreifen in die Natur. Für SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr ein Buch, das wehmütig stimmt.
Theres Roth-Hunkelers jüngster Roman «Damenprogramm» erzählt unbeschönigt davon, als Frau alt zu werden. Natürlich geht es dabei um Verluste: Der Körper verändert sich, Ehepartner sterben, Beziehungen scheitern. Aber allem voran ist es ein ermutigendes Buch über die eine Liebe, die alles überdauert: zwischen zwei besten Freundinnen. Ein Buch wie ein Vorbild, findet Literaturredaktorin Lea Dora Illmer.
Der aktuelle Buchtipp dieser Woche kommt von Michael Luisier. Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie am Wochenende in Frankfurt erinnert er an dessen Roman "Victory City".
Buchhinweise:
* Gianna Molinari. Hinter der Hecke die Welt. 200 Seiten. Aufbau, 2023.
* Theres Roth-Hunkeler. Damenprogramm. 256 Seiten. Edition Bücherlese, 2023.
* Salman Rushdie. Vicotory City. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. 414 Seiten. Penguin, 2023.
10/24/2023 • 22 minutes, 18 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Was Freiheit bedeutet
In «Lichtspiel» von Daniel Kehlmann geht es um die Grenzen der Kunst während des Zweiten Weltkrieg. In «Als die Welt entstand» von Drago Jan?ar um Totalitarismus im ehemaligen Jugoslawien. Und in «Hund 51» von Laurent Gaudé um eine dystopische Welt, in der die Menschen nicht mehr frei sind.
In seinem neuen Roman «Lichtspiel» beschäftigt sich der deutsch-österreichische Autor Daniel Kehlmann erneut mit einem historischen Stoff. Es geht um den österreichischen Filmemacher Georg Wilhelm Pabst, einem der grössten und erfolgreichsten Regisseure in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. Damals war Pabst so wichtig wie Fritz Lang («Metropolis») oder Friedrich Wilhelm Murnau («Nosferatu»). Und er war der Entdecker von späteren Superstars wie Greta Garbo und Louise Brooks. Aber dann traf er verschiedene falsche Entscheidungen und wurde zu einer Geisel der Nazis. Er musste fortan Filme für sie drehen. Franziska Hirsbrunner bringt diesen facettenreichen Roman mit an den Literaturstammtisch.
Im aktuellen Roman «Als die Welt entstand» des slowenischen Autors Drago Jan?ar wächst ein Knabe inmitten gesellschaftlicher und menschlicher Verwerfungen auf – und findet Rettung in der Fantasie. Felix Münger überzeugt die Kunst des Autors, ganz Unterschiedliches zusammenzubringen. Der Roman bietet ein Zeitgemälde der jugoslawischen Gesellschaft zu Beginn der 1960er Jahre: Die traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs wirft ihre dunklen Schatten. Das Buch ist aber auch ein in eine Kriminalgeschichte verpackter Coming-of-Age-Roman, der zudem grundsätzliche Fragen nach dem Wesen des Menschen aufwirft.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Bestseller «Hund 51» vom französischen Schriftsteller Laurent Gaudé vor. Es ist ein rasanter Science-Fiction-Thriller mit Aktualitätsbezug. Darin wird der Staatsbankrot von Griechenland weitergedacht und die Folgen der Klimaveränderung in eine dystopische Zukunft gelegt.
Buchhinweise:
* Daniel Kehlmann. Lichtspiel. 480 Seiten. Rowohlt, 2023.
* Drago Jan?ar. Als die Welt entstand. Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler. Zsolnay, 2023.
* Laurent Gaudé. Hund 51. 336 Seiten. Aus dem Französischen von Christian Kolb. dtv, 2023.
10/17/2023 • 31 minutes, 9 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Necati Öziri und Julie Otsuka
«Vatermal» von Necati Öziri, eines der aufregendsten Bücher der Saison und zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und «Solange wir schwimmen» von Julie Otsuka sind Thema am Literaturstammtisch im BuchZeichen.
Der Student Arda liegt mit Organversagen im Spital einer deutschen Kleinstadt. In einem Abschiedsbrief wendet er sich an seinen Vater, den er nicht kennt. Der Vater ist zurück in die Türkei gegangen, als Arda noch ganz klein war. In diesem Brief beschreibt Arda ihm nun sein Aufwachsen inmitten von Demütigung und Gewalt. «Vatermal» ist eines der besten Bücher dieses Herbsts, findet SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr. Ein intensives Leseerlebnis, wie man es nur selten habe.
Hundesitter, Professorinnen, arbeitslose Schauspieler – eine zusammengewürfelte Gruppe von Menschen, die die Liebe zum Schwimmen eint. Was im Hallenbad unter der Erde beginnt, entwickelt sich im Laufe des Romans zu einer feinfühligen Annäherung einer Tochter an ihre demenzkranke Mutter. «Solange wir schwimmen» von Julie Otsuka ist ein verblüffendes Buch mit tröstlichem Humor, findet Lea Dora Illmer.
Der Buchtipp kommt diese Woche von Michael Luisier. Er empfiehlt «Des Reimes willen Henk». Der Roman stammt von Ralf Schlatter und ist in Versform verfasst.
Buchangaben:
* Necati Öziri. Vatermal. 304 Seiten. Claassen, 2023.
* Julie Otsuka. Solange wir schwimmen. Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz. 160 Seiten. Mare, 2023.
* Ralf Schlatter. Des Reimes willen Henk. 128 Seiten. Limbus Verlag, 2023.
10/10/2023 • 21 minutes, 46 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Über die eigene Jugend schreiben
Peter Probst erzählt wie sein Alter Ego 18 Jahre alt und noch immer von seinen Eltern verhindert wird. Wilfried Meichtry schildert wie es sich anfühlt im geistig engen Wallis der 1970er Jahre heranzuwachsen. Und Annie Ernaux beschreibt die prekären Verhältnisse in ihrem Elternhaus in der Normandie.
Mit «Ich habe Schleyer nicht entführt» fügt Peter Probst seiner autobiografischen Romanserie über sein Alter Ego Peter Gillitzer einen dritten Band hinzu. Peter Gillitzer schliesst sich einer anarchistischen Gruppe an und unternimmt erste Schritte in Richtung Erfüllung seines Traums, Schriftsteller zu werden. Vor allem aber geht sein drei Bände dauernder Konflikt mit seinem dominanten Vater in die entscheidende Phase, denn Peter Gillitzer wird volljährig. Ein liebevoll und witzig erzählte Geschichte über eine Jugend unter mehr als speziellen Bedingungen, meint Michael Luisier.
Wilfried Meichtry ist besonders für seine historischen Romane bekannt. Nun hat der Schweizer Schriftsteller einen Roman entlang seiner eigenen Biografie geschrieben. «Nach oben sinken» erzählt von der Identitätsfindung eines Teenagers. Im Wallis der 70er-Jahre herrscht eine unerträgliche katholische Enge. Ein verträumter Jugendlicher versucht auszubrechen – und wühlt dabei Familiengeheimnisse auf. Am Familiengrab stösst er auf eine Inschrift, die sich auf einen rätselhaften Grossonkel bezieht, über den in der Familie nicht gesprochen wird. Doch das Schweigen, das er auf seine Nachfragen erfährt, übertrifft alles, was er bisher erlebt hat.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König «Die leeren Schränke» von Annie Ernaux vor. Es ist der erste Roman der französischen Literatur-Nobelpreisträgerin, den sie vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben hat. Auch dieses Buch ist autofiktional und kreist um Ernauxs Lebensthemen wie Herkunft und weibliche Selbstbestimmung. Doch im Schreibverfahren unterscheidet es sich von Ernauxs späteren Büchern.
Buchhinweise:
* Peter Probst. Ich habe Schleyer nicht entführt. 350 Seiten. Kunstmann, 2023.
* Wilfried Meichtry. Nach oben sinken. 256 Seiten. Nagel&Kimche, 2023.
* Annie Ernaux. Die leeren Schränke. Aus dem Französischen von Sonja Finck. 218 Seiten. Suhrkamp, 2023.
10/3/2023 • 29 minutes, 4 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Hilary Mantel und F.-H. Désérable
In ihrem Buch «Sprechen lernen» geht die britische Schriftstellerin Hilary Mantel auf Spurensuche ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Der französische Schriftsteller François-Henri Désérable erzählt in seinem Roman von einer Amour fou.
Hilary Mantels autofiktionale Erzählungen sind im Original schon vor zwanzig Jahren erschienen – jetzt kann sie auch das deutsche Publikum lesen. Mantel nimmt uns mit ins England der Fünfziger- und Sechzigerjahre, an Schauplätze, an denen prägende Erinnerungen entstanden sind.
«Sprechen lernen» ist für Franziska Hirsbrunner ein Lieblingsbuch – faszinierend, berührend, grandios erzählt.
Vasco und Tina brennen leidenschaftlich füreinander – dabei will Tina in wenigen Wochen Edgar, den Vater ihrer Zwillinge heiraten. Die Liebe zur Literatur verbindet die beiden. Besonders die Gedichte von Paul Verlaine und Arthur Rimbaud. Als Vasco Tina bei ihrem ersten Date in der Nationalbibliothek seltene und kostbare Bücher zeigt, können sie nicht mehr die Finger voneinander lassen.
Eine luftig-leichte Amour fou mit Krimielementen, die nebst der Spannung auch gleich noch Lust auf Lyrik macht – findet Annette König.
Im heutigen Kurztipp «Von Wegen und Umwegen» erzählen zwanzig berühmte zeitgenössische Autorinnen und Autoren vom Spazieren. Unter anderem begibt sich der britische Schriftsteller Tim Parks auf Spurensuche eines italienischen Generals, und die britische Autorin Alison Louise Kennedy schultert den Rucksack und erklimmt Berge in Schottland. Ganz bequem – auf dem Sofa – kann man sie dabei begleiten. Unterhaltsame und inspirierende Lektüre, sagt Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* Hilary Mantel. Sprechen lernen. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. 156 Seiten. Dumont Verlag, 2023.
* François-Henri Désérable: Mein Meister und Bezwinger. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz. 216 Seiten. Rotpunktverlag, 2023
* Duncan Minshull. Von Wegen und Umwegen. Betrachtungen über das Leben zu Fuss. Übersetzt von Reiner Pfleiderer, Friedrich Pflüger, Elsbeth Ranke, Stephanie Singh und Wolfram Ströle. HarperCollins, 2023.
9/26/2023 • 23 minutes, 49 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Das Wallis und die Mutter
Thomas Hettche schreibt einen Roman, in dem das Wallis vom Rest der Welt isoliert wird. Wolf Haas schreibt über seine sterbende Mutter und das Leben.Zwei scheinbar unterschiedliche Bücher, die aber beide persönliche Geschichten erzählen und die Bedeutung von Erinnerungen thematisieren.
Der deutsche Schriftsteller Thomas Hettche hat als Schauplatz seines neuen Romans das Wallis gewählt: Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt. Seither ist der Kanton abgeschottet – und hat sich losgesagt vom Rest der Welt. Um die Macht streiten sich nun der Leuker Kastlan und eine Bischöfin.
Anfangs mutet «Sinkende Sterne» noch an wie ein realistischer Roman, doch bald strotzt er vor Phantastik. Katja Schönherr bringt das Buch an den Literaturstammtisch.
Kann man vom Schreiben leben? Diese Frage kennt Wolf Haas. Sie wird ihm vermutlich oft genug gestellt. Nun dreht er sie um und schreibt vom Leben. Von seiner Mutter, die gerade im Sterben liegt, und von sich selbst, der sie in den Tod begleitet und eigentlich eine Poetikvorlesung schreiben muss. Titel: Kann man von Leben schreiben.
Ein wunderbares Buch über das Leben und die Sprache. «Eigentum» - das bisher persönlichste Buch von Wolf Haas, sagt Michael Luisier.
«The Marmalade Diaries» ist ein Tagebuch, das während des Corona-Lockdowns entstand: Der 34-jährige Ben sucht eine Wohnung und kommt unter bei der 85-jährigen Winnie. The perfect match? Man kann es nur hoffen, weil der Lockdown die beiden dazu zwingt, näher zusammenzurücken.
Ben Aitken schreibt unterhaltsam und humorvoll über den gemeinsamen Alltag, ohne kitschig oder sentimental zu werden. Ein Buch, in das man sich kuscheln kann, findet Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* Thomas Hettche. Sinkende Sterne. 215 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2023.
* Wolf Haas. Eigentum. 169 Seiten. Carl Hanser, 2023.
* Ben Aitken. The Marmalade Diaries. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. 352 Seiten. DuMont, 2023.
9/19/2023 • 24 minutes, 55 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Lebenskrisen
Der tödliche Unfall des Ehepartners wie in Brigitte Girauds „Schnell leben. Der Weg zu einer Geschlechtsanpassung, wie sie Henri Maximilian Jakobs in «Paradiesische Zustände» beschreibt. Vieles kann Lebenskrisen auslösen. Vieles muss gelöst werden. Bücher zum Thema am Literaturstammtisch.
Welche Hürden sind für eine Geschlechtsangleichung zu überwinden? Der deutsche Musiker und Schauspieler Henri Maximilian Jakobs weiss das aus eigener Erfahrung. Nun hat er darüber einen Roman geschrieben. «Paradiesische Zustände» heisst er. SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr lobt das Buch als informative und zugleich humorvolle Lektüre.
In ihrem autofiktionalen Roman «Schnell leben» verarbeitet die französische Schriftstellerin Brigitte Giraud den frühen Tod ihres Mannes, der bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. In nüchterner, klarer und präziser Sprache begibt sie sich schreibend an den Ort, der sie 25 Jahre lang vermieden hat, weil er zu schmerzhaft war. Eine tragische Liebesgeschichte, die einem verdeutlicht: es ist, was ist, darum geniesse den Moment! - findet Annette König, die das Buch wärmstens empfiehlt.
Selbst der Buchtipp der Woche hat mit Krise und dem Versuch ihrer Bewältigung zu tun, denn es handelt sich um die Gedichte der hochsensiblen Mundartdichterin Maria Lauber, die ihre streng religiöse Erziehung nie ganz hinter überwinden konnte.
Buchhinweise
* Henri Maximilian Jakobs. Paradiesische Zustände. 350 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2023.
* Brigitte Giraud. Schnell leben. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. 224 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt, 2023.
* Maria Lauber. Gedichte in Frutiger Mundart. Kulturstiftung Frutigland (Hg.). 320 Seiten. Zytglogge, 2023.
9/12/2023 • 21 minutes, 32 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: On the run
Deborah Levy erzählt von einer Pianistin, die vor sich selbst flieht. Lion Christ von einem jungen homosexuellen Mann, der vor jedem mit Erwartungen an ihn davonrennt. Und Joachim B. Schmidt beschreibt, wie Kalmann, in den USA wegen einer Familienangelegenheit in der Tinte sitzt.
Elsa M. Anderson ist eine berühmte Konzertpianistin. Bei ihrem Konzertauftritt in Wien vermasselt sie es. Sie verlässt die Bühne und stellt in Folge alles in Frage. Drei Wochen später beobachtet sie auf einem Flohmarkt in Athen eine Frau, die ihr auf seltsame Weise gleicht. In der Auseinandersetzung mit ihrer Doppelgängerin findet Elsa wieder zu sich selbst.
Deborah Levy verbindet autobiografisches und fiktionales Erzählen. In ihrem sinnlichen Schreiben lässt sie das Schöne im Alltäglichen aufscheinen, findet Jennifer Khakshouri, die das Buch am Stammtisch empfiehlt.
München, 1983. Flori, ein lebenshungriger junger Mann aus der Provinz, träumt von der grossen Liebe und dem prallen Leben. Er zieht in die Stadt und kommt in die vibrierende Münchner Schwulenszene, wo alles verkehrt, was Rang und Namen hat: von Rainer Werner Fassbinder bis Freddie Mercury. Doch mit der grossen Liebe tut er sich schwer. Und AIDS, was gerade aus Amerika nach Europa kommt, ändert alles auf katastrophale Weise.
Lion Christ hat mit seinem Flori einen «schwulen Stenz» nach bestem bayerischem Vorbild geschaffen, was es bisher noch nicht gegeben hat. Und mit seinem Debütroman «Sauhund» ein Stück grossartige Literatur, sagt Michael Luisier, der das Buch am Stammtisch vorstellt.
Im heutigen Kurz-Tipp «Kalmann und der schlafende Berg» stellt Annette König die Fortsetzung von Joachim B. Schmidts Krimireihe um seinen isländischen Sheriff von Raufarhöf fort. Dieses Mal sitzt Kalmann in der Tinte. Als er seinen amerikanischen Vater besucht und vom FBI aufgegriffen wird. Offenbar gibt es geheime Akten über seinen Grossvater. Die Spuren führen zurück in den Kalten Krieg.
Buchhinweise:
* Deborah Levy. Augustblau. Aus dem Englischen von Marion Hertle. 176 Seiten. Kampa, 2023.
* Lion Christ. Sauhund. 370 Seiten. Hanser, 2023.
* Joachim B. Schmidt. Kalmann und der schlafende Berg. 304 Seiten. Diogenes, 2023.
9/5/2023 • 22 minutes, 40 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Ferdinand von Schirach und Emma Cline
Einen genauen, analytischen Blick auf die heutige Gesellschaft. Und die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen. Das bieten die beiden Bücher, die heute auf dem Literaturstammtisch liegen.
Die US-Amerikanerin Emma Cline erhielt für ihr Debüt "The Girls" (2016) einen Vorschuss von über 2 Millionen Dollar. Es ging um eine Jugendliche in den Fängen einer Sekte. Unschwer war die Manson Family erkennbar. Deren Morde in Hollywood, die die Flower-Power-Ära der 1960er Jahre beendeten, verstören das Land bis heute. Im lange erwarteten neuen Roman "Die Einladung" nimmt Emma Cline erneut die Schattenseiten des amerikanischen Traums ins Visier. Sie erzählt von einem Escort Girl, das in der Welt der Reichen und Superreichen untergeht.
Es gibt wenige deutschsprachige Star-Autoren dieses Formats: Ferdinand von Schirach. Seine Werke wurden millionenfach verkauft. Unter dem Titel «Regen» hat von Schirach nun ein neues Buch geschrieben: einen Theatermonolog, den er auf mehreren grossen Bühnen selbst vortragen wird. Drei Auftritte sind auch in der Schweiz geplant. Wer keine Karten ergattert, dem empfiehlt Literaturredaktorin Katja Schönherr die Lektüre dieses schmalen Bands.
Der Roman «Die Erinnerungsfotografen» der Japanerin Sanaka Hiiragi ist ein Schmuckstück, findet Britta Spichiger. Wunderschön gestaltet, mit inspirierendem Inhalt: Herr Hiraska empfängt in seinem Fotostudio Menschen, die gestorben sind. Dort dürfen sie für jedes Lebensjahr ein Foto auswählen und für ein bestimmtes Foto nochmals in die Vergangenheit reisen und es neu schiessen. Herr Hisaka zeigt den Menschen, wie unschätzbar wertvoll Erinnerungen sind – und dass ihr Wert oft von der Perspektive, aus der man sie betrachtet, abhängig ist.
Buchhinweise:
* Emma Cline. Die Einladung. Aus dem Englischen von Monika Baark. 317 Seiten. Carl Hanser Verlag, 2023.
* Ferdinand von Schirach. Regen. Eine Liebeserklärung. 112 Seiten. Luchterhand, 2023.
* Sanaka Hiiragi. Die Erinnerungsfotografen. Aus dem Japanischen von Yukiko Luginbühl und Sabine Mangold. 176 Seiten. Hoffman und Campe, 2023.
8/29/2023 • 28 minutes, 19 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Erkundungen im Labyrinth des Lebens
Diaty Diallo zeigt in «Zwei Sekunden brennende Luft» die Ausweglosigkeit in der Banlieue. R.C. Sherriffs «Zwei Wochen am Meer» schildert eine Suche nach Glück, die sich nicht in seelischen Belastungen verirrt. Und Kurt Martis «Die Riesin» macht das Erzählen selbst zu einem faszinierenden Irrgarten.
Die Französin Diaty Diallo erzählt in ihrem hochaktuellen Debüt «Zwei Sekunden brennende Luft» von Jugendlichen, die in der Pariser Banlieue aufwachsen: Von Familie, Freundschaft und erster Liebe - aber auch von Perspektivlosigkeit, Krawall, Polizeigewalt und Tod.
Diaty Diallo schreibe mit grosser Musikalität, sagt Annette König, die den Roman an den Literatur-Stammtisch mitbringt. Die Autorin habe eine grosse Begabung, Stimmungen, Gefühle und Orte einzufangen: «Ein kraftvolles Buch, das grosse Explosionskraft besitzt.»
«Zwei Wochen am Meer» des Briten R.C. Scherriff stammt aus dem Jahr 1931. Der Roman geriet in Vergessenheit und wurde kürzlich vom britischen Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro wiederentdeckt: Das Buch sei der lebensbejahendste Roman, den er kenne, sagt Ishiguro.
«Zwei Wochen am Meer» erzählt von der Familie Stevens und ihren Ferien an der englischen Südküste. In der Geschichte geschieht nicht viel Ungewöhnliches, aber sie zeigt, wie fast jedes Vorhaben getragen ist von Hoffnungen, Befürchtungen und Idealvorstellungen. Gemäss Britta Spichiger verwebe der Roman voller Poesie scheinbar unbedeutende Situationen mit grossen Lebensfragen.
Der 2017 verstorbene Berner Autor Kurt Marti war ein begnadeter Lyriker. Wie sehr er jedoch auch die längere Form beherrschte, bewies er mit seinem einzigen Roman «Die Riesin». Er schildert einen Bibliothekar, der sich auf die Suche nach einer Traumfigur macht und sich dabei in einem vertrackten Labyrinth wiederfindet.
Der Roman erschien erstmals 1975. Der Autor hat diesen sprachlich experimentellen Text immer wieder überarbeitet. Nun erscheint er zum ersten Mal in seiner letzten Fassung. «Eine gute Gelegenheit, den grossen Schweizer neu zu entdecken», sagt Felix Münger.
Buchhinweise:
* Diaty Diallo. Zwei Sekunden brennende Luft. Aus dem Französichen von Nouria Behloul und Lena Müller. 176 Seiten. Assoziation A, 2023.
* R.C. Sherriff. Zwei Wochen Ferien am Meer. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott. 352 Seiten. Unionsverlag, 2023.
* Kurt Marti. Die Riesin. Eine Nachforschung, Hg. und mit einem Nachwort von Stefanie Leuenberger und Andreas Mauz. 164 Seiten. Wallstein, 2023.
8/22/2023 • 28 minutes, 46 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Wenn Sicherheiten wegbrechen
Bernardine Evaristo erzählt von einem späten Coming-out der Liebe willen. Aline Valangin schildert den Ausnahmezustand in einem abgelegenen Tessiner Dorf während des Zweiten Weltkriegs. Und die Französin Maria Pourchet schreibt über einen harmlosen Flirt, der zum Flächenbrand wird.
In «Mr. Loverman» beschreibt die gefeierte Autorin Bernardine Evaristo das Doppelleben eines Mannes. Mit Mitte 70 will Barry endlich sein Leben aufräumen. Das heisst, er will seine Frau verlassen und offen mit seiner grossen Liebe zusammensein, seinem Jugendfreund Morris. Wird Barry das späte Coming-out wagen? Von dieser Frage lebt der Roman. Und von seinem herrlich bissigen Humor, findet Katja Schönherr.
Ein abgelegenes Dorf an der schweizerisch-italienischen Grenze ist Schauplatz im zweiten Roman von Aline Valangin. Die Bohemienne und Pianistin lebte während des Zweiten Weltkriegs selbst im Onsernone-Tal und beschreibt, was der Krieg mit dem Dorf machte. Wie die Männer zum Aktivdienst eingezogen wurden, Flüchtlinge verzweifelt um Aufnahme suchten, Schmuggler das ganze Dorf in einen fieberhaften Reishandel verwickelten. Es geht um Obrigkeitsgläubigkeit, Profitdenken und mangelndes Engagement – um eine verschonte Schweiz, die nur solidarisch ist, wenn es sie nichts kostet. Franziska Hirsbrunner empfiehlt den Roman am Literaturstammtisch.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Roman «Feuer» von der Französin Maria Pourchet vor. Laure, Akademikerin, Anfang vierzig, will endlich wieder ein Leben voller Überraschungen führen. Zu stark hat sie das Familien- und Berufsleben in starre Bahnen gewiesen. Das Feuer dazu entfacht die Liebe zu einem desillusionierten Investmentbanker. Was mit einem harmlosen Flirt beginnt, wird zum Flächenbrand. Pourchet beschreibt ungemein treffsicher die Sehnsüchte, Hoffnungen und Abgründe zweier Menschen, die vom Leben nicht dasselbe wollen.
Buchhinweise:
* Bernardine Evaristo. Mr. Loverman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. 330 Seiten. Tropen, 2023.
* Aline Valangin. Dorf an der Grenze. 217 Seiten. Limmat, 2023.
* Maria Pourchet. Feuer. Aus dem Französischen von Claudia Marquardt. 320 Seiten. Luchterhand, 2023.
8/15/2023 • 26 minutes, 35 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Amélie Nothomb und Knut Hamsun
Zwei völlig unterschiedliche Werke, doch beide vom eigenen Leben inspiriert. Auf dem Literaturstammtisch liegen heute «Der belgische Konsul» von Amélie Nothomb und «Hunger» von Knut Hamsun.
Die belgische Bestsellerautorin Amélie Nothomb hat ein sehr persönliches Buch über ihren Vater geschrieben, um dessen Tod zu verarbeiten. Der Roman heisst «Der belgische Konsul». Darin erzählt die Autorin von der Kindheit und dem bewegten Diplomatenleben von Patrick Nothomb, der mit 28 Jahren fast von einem Exekutionskomitee im Kongo erschossen worden wäre. Annette König bringt das Buch an den Literaturstammtisch und weiss auch viel von ihrer Begegnung mit der Autorin zu erzählen.
Ein Ich-Erzähler irrt durch die Strassen von Kristiana, dem heutigen Oslo. Er ist mittellos und leidet Höllenqualen, weil er hungert. Und weil er keine Hilfe annehmen kann. Aus Scham und Ehrgefühl. Mit dem Roman «Hunger» von 1890 hat der norwegische Autor und spätere Nobelpreisträger Knut Hamsun Literaturgeschichte geschrieben. Der Roman gilt als Meilenstein des psychologischen Romans und sei auch heute noch ein Leseerlebnis, sagt Felix Münger. Die Neuübersetzung orientiert sich an der Urfassung, die Hamsun Jahrzehnte später veränderte, als er sich dem Nationalsozialismus zuwandte und ganze Passagen strich oder glättete.
«Als wir Vögel waren» - der Roman von Ayanna Lloyd Banwo aus Trinidad – erzählt eine magische Liebesgeschichte. Es geht um Darwin und Yeijde, die aus vollkommen unterschiedlichen Welten kommen – und sich doch mit denselben Lebensfragen konfrontiert sehen. Britta Spichiger empfiehlt den Roman zur Lektüre, weil er einen in die Klänge, Bräuche und Legenden von Trinidad eintauchen lässt – und gleichzeitig mit zarter Poesie verzaubert.
Buchangaben
* Amélie Nothomb. Der belgische Konsul. Aus dem Französischen von Brigitte Grosse. 144 Seiten. Diogenes, 2023.
* Knut Hamsun. Hunger. Neu übersetzt aus dem Norwegischen nach der Erstausgabe von 1890 von Ulrich Sonnenberg. 256 Seiten. Manesse, 2023.
* Ayanna Lloyd Banwo. Als wir Vögel waren. Aus dem trinidad-kreolischen Englisch von Michaela Grabinger. 352 Seiten. Diogenes, 2023.
6/27/2023 • 27 minutes, 46 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Anthony McCarten und Yuko Tsushima
Der Neuseeländer Anthony McCarten zeigt in «Going Zero» auf, dass wir der totalen Überwachung (fast) nicht mehr entgehen können. Die Japanerin Yuko Tsushima erzählt in «Räume des Lichts» von einer alleinerziehenden Frau, die ein unabhängiges Leben will.
Der Neuseeländer Anthony McCarten entwirft in seinem rasanten Thriller «Going Zero» ein erschreckend realistisches Szenario. Die US-amerikanischen Geheimbehörden schliessen sich zusammen mit der weltweit grössten privaten Datenbank. Alle Verantwortlichen sind überzeugt, dass die nationale Cybersicherheit nur gewährleistet ist, wenn sie ihre Kräfte bündeln, Technologien und Daten austauschen. Das gigantische Projekt muss nur noch einen Test bestehen: Zehn Freiwillige tauchen für dreissig Tage unter und dürfen absolut keine Spuren hinterlassen. Wenn die Datenkrake die Menschen nicht finden kann, platzt der Deal.
Die japanische Schriftstellerin Yuko Tsushima (1947-2016) wird gerade international wiederentdeckt. Mit ihren stark autobiografisch geprägten Themen und ihrem nüchternen, aber lebensprallen Stil macht sie Furore. In «Räume des Lichts» erzählt sie, ihrer Zeit weit voraus, vom Alltag einer alleinerziehenden Frau im Tokio der 1970er Jahre und ihrem Kampf um die Kontrolle über das eigene Leben.
Im heutigen Kurztipp «All die Liebenden der Nacht» von Mieko Kawakami geht es um eine junge Korrekturleserin, die nicht weiss, wie man lebt. Doch eine unverhoffte Begegnung mit einem Unbekannten durchbricht ihre Alltagsroutine und eröffnet ihr neue Perspektiven.
Buchhinweise:
* Anthony McCarten. Going Zero. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. 464 Seiten. Diogenes, 2023.
* Yuko Tsushima. Räume des Lichts. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. 208 Seiten. Arche Literaturverlag, 2023.
* Mieko Kawakami. All die Liebenden der Nacht. Aus dem Japanischen von Katja Busson. 260 Seiten. Dumont, 2023.
6/20/2023 • 24 minutes, 29 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Mathias Énard und Verena Kessler
Der französische Autor und die deutsche Autorin stellen in ihren neuen Romanen existentielle Fragen. Im einen geht es um kriegstraumatisierte Männer, im anderen um Mutterschaft.
Im Zentrum des Romans «Der perfekte Schuss» des Franzosen Mathias Énard steht ein junger Scharfschütze, der in einem nicht bezeichneten Krieg aus dem Hinterhalt tötet – Soldaten und wahllos Zivilisten.
Die Lektüre sei verstörend, sagt Felix Münger, aber auch dringlich. Denn das Buch leuchte in die kaputten Seelen von Menschen, die in Kriegen – in der Ukraine und anderswo - zu uniformierten Bestien werden und morden, foltern und vergewaltigen.
Der Roman ist Énards Debütroman, der 2003 im französischen Original erschien und nun erstmals auf Deutsch vorliegt.
Was spricht für das Kinderkriegen und was dagegen?
In ihrem Roman «Eva» leuchtet die deutsche Autorin Verena Kessler das Thema «Mutterschaft» aus verschiedenen Perspektiven aus. So geht es zum Beispiel um Sina, die versucht, schwanger zu werden – doch es klappt nicht. Oder um die titelgebende Eva, die vehement dagegen ist, heutzutage noch Kinder zu bekommen. Nur ein Geburtenstopp könne unseren Planeten angesichts der Klimakrise retten, so ihre Meinung.
Mit «Eva» hat Verena Kessler einen sehr klugen, anregenden und raffiniert konstruierten Roman geschrieben, findet Katja Schönherr.
Der Roman «Die unglaubliche Grace Adams» erzählt von einer Frau in mittleren Jahren, die ihr Leben nochmals anpackt. An einem heissen Sommertag steht sie in London im Stau, eine Fliege nervt sie, der Schweiss läuft ihr aus allen Poren, sie ist spät dran, um sie herum ein Hupkonzert ungeduldiger Fahrer:innen. Grace steigt aus, lässt ihr Auto stehen – und stürmt quer durch London. Zu ihrer Tochter, die sie nicht mehr sehen will, zu ihrem Mann, der sich von ihr getrennt hat. Ihre Raserei, ihr Wutausbruch, haben etwas Heilendes und ermöglichen vielleicht sogar einen Neuanfang. Im Kurztipp empfiehlt Britta Spichiger das Buch als perfekte Sommerlektüre.
Buchhinweise:
* Mathias Énard. Der perfekte Schuss. Aus dem Französischen von Sabine Müller. 192 Seiten. Hanser Berlin, 2023.
* Verena Kessler. Eva. 200 Seiten. Hanser Berlin, 2023.
* Fran Littlewood. Die unglaubliche Grace Adams. Aus dem Englischen von Katharina Naumann. 368 Seiten. Ullstein, 2023.
6/13/2023 • 25 minutes, 4 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Familienroman und Astrologie-Comic
Bunt kommt es daher, das aktuelle BuchZeichen mit seinen Buchempfehlungen: Der wöchentliche Literaturstammtisch bespricht Alice Grünenfelders Familienroman «Jahrhundertsommer» und Liv Strömquists Comic «Astrologie». Gleichzeitig erinnert es an den Kinderbuchautor und Dichter Erich Kästner.
Ein Provinzroman, der in den 1960er Jahren in Süddeutschland spielt: Magda wird von ihrem Mann verlassen. Fortan ächtet man sie in ihrem Dorf, als sei eine Scheidung ansteckend. Alice Grünfelders Roman "Jahrhundertsommer" ist eine gross angelegte Familiengeschichte. Und vor allem ist sie turbulent. Mit unvorhersehbaren Wendungen sorgt Grünfelder für Spannung, findet SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr.
Astrologie boomt, vor allem in den sozialen Medien, denn sie schenkt (scheinbare) Sicherheit in unsicheren und unübersichtlichen Zeiten. Mit ihrem neuen Comic «Astrologie» knöpft sich die schwedische Comic-Zeichnerin Liv Strömquist, eine Ikone des Feminismus, unsere Sternzeichen vor, indem sie auf sehr humorvoll-bissige Weise ihre Zuschreibungen auf die Schippe nimmt, ohne sie ins allzu Lächerliche zu ziehen. Auch Literaturredaktorin Nicola Steiner, die den Comic ins Buchzeichen mitbringt, findet sich in diesem Comic wieder, wenn es dort zu ihrem Sternzeichen heisst, Schützen seien unglaublich open-minded Outside-The-Box-Denker*innen – ausser wenn es um Vorschläge anderer Leute geht.
Der Tipp der Woche stammt von Michael Luisier. Er empfiehlt den Sammelband «Erich Kästner – Resignation ist kein Gesichtspunkt – Politische Reden und Feuilletons», der gerade vom deutschen Literaturwissenschaftler und Erich-Kästner-Biografen Sven Hanuschek herausgegeben wurde.
Buchhinweise:
* Alice Grünfelder. Jahrhundertsommer. 320 Seiten. dtv, 2023.
* Liv Strömquist. Astrologie. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. 176 Seiten. Avant Verlag, 2023.
* Erich Kästner. Resignation ist kein Gesichtspunkt. Politische Reden und Feuilletons. Herausgegeben von Sven Hanuschek. 238 Seiten. Atrium Verlag, 2023.
Claire Keegan erzählt kraftvoll die Geschichte eines Mädchens aus prekären Verhältnissen. Gwendolyn Brooks schildert die Lebenssituation einer Schwarzen Frau in Chicago Anfang des 20. Jh. Und Maylis de Kerangal schreibt vielstimmig über Momente der Nähe und Entfremdung im Leben von acht Frauen.
Die berührende Erzählung «Das dritte Licht» von der irischen Schriftstellerin Claire Keegan erschien bereits vor Jahren. Im Zentrum steht ein Mädchen aus prekären Verhältnissen, das in die Pflege bei kinderlosen Verwandten gegeben wird. Mit kriminalistischem Gespür beschreibt Keegan, wie sich eine neue Welt für das Kind eröffnet. Nun ist dieser Text in einer überarbeiteten Version neu aufgelegt worden – anlässlich der Verfilmung «The Quiet Girl», die in diesem Jahr für die Oscars nominiert war. Für Nicola Steiner ist Keegan eine der interessantesten literarischen Stimmen unserer Zeit.
Die US-Amerikanerin Gwendolyn Brooks (1917-2000) hat vorrangig Lyrik verfasst. Und im Jahr 1953 einen einzigen Roman. Dieser erscheint jetzt erstmals auf Deutsch. Benannt nach seiner Hauptfigur «Maud Martha», beschreibt er das Leben einer Schwarzen Frau in Chicago Anfang des 20. Jahrhunderts. Maud Martha will ihren ärmlichen Verhältnissen entfliehen. Doch in einer rassistischen und männlich dominierten Gesellschaft ist das unmöglich. Ein zartes, berührendes Buch, findet Literaturredaktorin Katja Schönherr.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Erzählband «Kanus» von der Französin Maylis de Kerangal vor. Darin sind acht unterschiedliche Frauenstimmen versammelt, die von Nähe und Entfremdung erzählen, die durch das Timbre oder die Veränderung einer Stimme ausgelöst werden kann.
Buchhinweise:
* Claire Keegan. Das dritte Licht. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. 104 Seiten. Steidl, 2023.
* Gwendolyn Brooks. Maud Martha. Aus dem Amerikanischen von Andrea Ott. 150 Seiten. Manesse, 2023.
* Maylis de Kerangal. Kanus. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. 168 Seiten. Suhrkamp, 2023.
5/30/2023 • 26 minutes, 51 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Meine Lesebiografie
Martina Clavadetscher, preisgekrönte Autorin und Dramatikerin, und Hannes Binder, ausgezeichneter Illustrator und Maler, sind die heutigen Gäste.
In der Sendung «BuchZeichen» schauen beide zurück auf ihr bisheriges Literaturleben. Als Lesende. Welche Lektüre hat die beiden geprägt? Wie hat Lesen sie beeinflusst und begleitet? Welche Bücher haben sie in eine Ecke geschmissen? Und welche hüten sie wie einen Schatz?
In der Sendung «BuchZeichen» von den Solothurner Literaturtagen unterhalten sich Martina Clavadetscher und Hannes Binder über ihr Leseleben.
Buchhinweise:
* Otfried Preussler. Krabat. 272 Seiten. Thienemann Verlag, 2016.
* Alfred Kubin. Die andere Seite. 308 Seiten. Rowohlt Taschenbuch, 2010.
5/23/2023 • 28 minutes, 17 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Sylvie Schenk und Esther Schüttpelz
Geschichten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, werden vorgestellt am Literaturstammtisch im BuchZeichen. Da ist zum einen das erschütternde Frauenschicksal aus «Maman» von Sylvie Schenk und zum anderen die Coming-of-Age-Geschichte «Ohne mich» der Debütantin Esther Schüttpelz.
Die 78-jährige deutsch-französische Autorin Sylvie Schenk rekonstruiert in «Maman» die Geschichte ihrer Mutter, die weitgehend unbekannt geblieben war. Die Mutter wurde unehelich in bitterarme Verhältnisse geboren. Wer ihr Vater war, wusste man nicht. Ihre Mutter starb nach der Geburt. Das Kind kam zu Bauern und wurde dort vermutlich misshandelt. Es erholte sich auch unter der Obhut gutbürgerlicher Adoptiveltern nicht mehr. Auch später, als Frau eines Zahnarztes und Mutter von fünf Kindern, blieb sie leblos wie eine Puppe. Sylvie Schenk erzählt diese erschütternde Geschichte, die Franziska Hirsbrunner mit an den Stammtisch bringt, auf wenigen Seiten, aber mit vielen Exkursen in Zeitgeschichte, Gesellschaft und Politik.
Annette König bringt «Ohne mich» von Esther Schüttpelz in die Sendung. In ihrem Debüt erzählt die junge deutsche Autorin von einer Frau Mitte zwanzig, die aus einer Laune heraus heiratet, um den Ernst des Lebens auszuprobieren. Und ja, den Ernst des Lebens lernt sie dann auch kennen, muss sich aber bald eingestehen, dass die Heirat eine Schnapsidee gewesen ist. Eine Coming-of-Age-Geschichte, die viel über die Genration Z verrät einer jungen Autorin, die dafür auch mit dem lit. Cologne Debütpreis ausgezeichnet wurde.
Buchhinweise:
* Sylvie Schenk. Maman. 176 Seiten. Hanser Verlag, 2023.
* Esther Schüttpelz. Ohne mich. 208 Seiten. Diogenes, 2023.
5/16/2023 • 24 minutes, 9 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Wenn Literatur eigene Welten schafft
Charles Ferdinand Ramuz Klimaroman «Sturz in die Sonne» erschafft eine eigene visionäre Welt. Tabea Steiners zweiter Roman «Immer zwei und zwei» erzählt vom engen Freikirchenmilieu und Karl-Josef Kuschels «Magische Orte» von Begegnungen mit Menschen, Büchern und Orten, wo Literatur entstanden ist.
Charles Ferdinand Ramuz' Roman «Présence de la mort» erscheint jetzt erstmals auf Deutsch. Und zwar unter dem Titel «Sturz in die Sonne». Der Text ist 100 Jahre alt – und trotzdem aktueller denn je, findet SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr. Es sei der «Klimaroman der Stunde», sagt sie. Er halte uns heute in unserem Umgang mit der Klimakrise den Spiegel vor.
Den eigenen Weg gehen, ein selbstbestimmtes Leben führen und was die Hindernisse dabei sein können – davon erzählt die Schweizer Autorin Tabea Steiner in ihrem zweiten Roman «Immer zwei und zwei». Das Buch schildert eine Frau mittleren Alters, die aus einer Freikirche aussteigen will, weil sie die dortige Enge und Bevormundung nicht mehr erträgt. Für Felix Münger zeigt der Roman am Beispiel der Freikirchenthematik anschaulich, wie sehr der Weg in die Freiheit ganz generell beschwerlich sein kann. Denn neben äusseren Zwängen können auch eigene Prägungen und hinderlich sein, sich selbst zu werden.
Im heutigen Kurz-Tipp stellt Annette König «Magische Orte» von Karl-Josef Kuschel vor. Das Buch ist eine inspirierende und fesselnde Mischung aus Autobiografie und Sachbuch über Literatur.
Buchhinweise:
* Charles Ferdinand Ramuz. Sturz in die Sonne. Aus dem Französischen von Steven Wyss. 200 Seiten. Limmat, 2023.
* Tabea Steiner. Immer zwei und zwei. 208 Seiten. Edition Bücherlese, 2023.
* Karl-Josef Kuschel. Magische Orte. Ein Leben mit der Literatur. 664 Seiten. Patmos, 2022.
5/9/2023 • 26 minutes, 40 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Salman Rushdie und John Irving
Der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie erzählt von einer mythischen, südindischen Stadt im 14. Jahrhundert. Und der US-Amerikaner John Irving nimmt die Leserschaft mit auf einer Reise durchs Leben eines Jungen auf der Suche nach seinen Wurzeln.
Michael Luisier bringt den neuen Roman von Salman Rushdie mit in die Sendung. In «Victory City», einer als Mythologie verpackten Geschichte über den Aufstieg und Fall der mittelalterlichen Stadt Bisnaga, kommt der britisch-indische Schriftsteller einmal mehr auf seine Hauptthemen zu sprechen: Religiöser Fanatismus und die Macht des Wortes. Und hier ganz besonders: die Stärke Frau.
Exeter, New Hampshire in den 1950er Jahren. Der spätere Ringer und Drehbuchautor Adam Brewster wächst umgeben von einer homoerotischen Dreiecks-Beziehung auf. Die besteht aus seiner Mutter, ihrer lesbischen Freundin und dem Ehemann der Mutter – der lebt allerdings als Frau. Die drei betrügen einander nicht, lieben sich auf ihre eigene Weise. Doch die Gesellschaft stösst sich daran. Und Adam hat Angst, dass sich dieses prekäre Dreiecksverhältnis irgendwann auflösen könnte. John Irvings neuer Roman sei eine süffige Familiensaga in Überlänge und ein Plädoyer für queere Lebensentwürfe, sagt Annette König, die das Buch am Literaturstammtisch empfiehlt.
Den heutigen Kurztipp widmet Britta Spichiger dem Buch «Besser allein als in schlechter Gesellschaft». Die kroatische Autorin Adriana Altaras erzählt darin von ihrer wunderbar eigensinnigen Tante, die sie ein Leben lang eng begleitet hat. Die ihr in allen Lebenskrisen zur Seite stand und sie noch mit 98 Jahren mit Ratschlägen, Pasta und Barbesuchen tröstete. Empfehlenswerte Lektüre, weil sie zeigt, wie man das Leben annehmen – und loslassen kann.
Buchhinweise:
* Salman Rushdie. Victory City. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. 416 Seiten. Penguin, 2023.
* John Irving. Der letzte Sessellift. Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. 1088 Seiten. Diogenes Verlag, 2023.
* Adriana Altaras. Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante. 240 Seiten. Kiepenheuer und Witsch, 2023.
5/2/2023 • 26 minutes, 59 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Swing, Romance und Nervenkitzel
Demian Lienhard erzählt von einer Jazz Band, die swingend Propaganda macht. Colleen Hoover schreibt über grosse Gefühle und trifft damit den Nerv der Zeit. Und Hopes & Toes beunruhigen mit einem EU-Thriller, der vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs bedeutsam wird.
Auf Geheiss des Nazi-Propagandaministers Goebbels wurde im Zweiten Weltkrieg eine Jazz-Band gegründet, die amerikanischen Swing mit englischsprachigen, pro-deutschen Propagandatexten kombinierte – die per Radio über den Ärmelkanal nach England gesendet wurden. «Charlie and His Orchestra» hiess die Combo, die es tatsächlich gegeben hat und um deren Geschichte der neue Roman des Schweizer Autors Demian Lienhard kreist. Für Simon Leuthold ein spannendes Stück Geschichte, das zum Nachdenken über Propaganda und das Wesen der Literatur anregt.
Auf den ersten Blick wirken ihre Romane wie aus der Zeit gefallen. Die US-Amerikanerin Colleen Hoover schreibt Geschichten, wie man sie in einem Arztroman aus dem Kiosk findet: bildhübsche junge Frau verliebt sich in attraktiven Neurochirurgen. So schematisch und vorhersehbar das klingt – Hoover trifft einen Nerv der Zeit. Letztes Jahr hat niemand so viele Bücher verkauft wie sie. Und auch dieses Jahr setzt sich ihre gigantische Erfolgsgeschichte fort. Ein interessantes Phänomen, das einige Schlüsse über unsere Gesellschaft zulässt, findet Britta Spichiger.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Thriller «Der Tallinn-Twist» vom Autorenduo Hopes & Toes vor. Ein Spionagefall in der Europäischen Union führt die Agentin Marie Vos von Brüssel nach Estland. Dort kommt es zu einem Anschlag gegen die E(U)mperors, die das Baltikum unterwerfen wollen.
Buchhinweise:
* Demian Lienhard. Mr. Goebbels Jazz Band. 320 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt, 2023.
* Colleen Hoover. Nur noch ein einziges Mal. It Ends with Us. Aus dem Amerikanischen von Katarina Ganslandt. 407 Seiten. dtv, 2022.
* Hoeps & Toes. Der Tallinn-Twist. 320 Seiten. Unionsverlag, 2022.
4/25/2023 • 21 minutes, 39 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Lukas Bärfuss und Veronica Raimo
«Die Krume Brot», Lukas Bärfuss Roman zum Thema Armut und «Nichts davon ist wahr», Veronica Raimos Tragikomödie über eine reichlich verrückte Familie, das die beiden aktuellen Bücher am Literaturstammtisch.
Die Armut ist ein Monster, das ganze Biografien zerstören kann. Dies zeigt der neue Roman «Die Krume Brot» des Schweizer Autors und Büchner-Preis-Trägers Lukas Bärfuss. Er schildert das Los einer jungen Frau mit italienischen Wurzeln. Sie wächst in den 1960er Jahren in prekären Verhältnissen in Zürich auf, kann ihre Armut nie überwinden und gerät dadurch mehr und mehr in den Abgrund. Ein aufwühlendes Werk auf literarisch hohem Niveau und voll von Bezügen zur globalen Gegenwart, findet Felix Münger.
Die 44-jährige italienische Schriftstellerin Veronica Raimo hat schon einige Bücher veröffentlicht. Trotzdem ist sie bei uns bislang noch kaum bekannt. SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr hofft, dass sich das ändert. Ihren neuen Roman «Nichts davon ist wahr», in dem es um das Aufwachsen in einer grotesken Familie geht, in der jeder einen anderen Spleen hat, hält sie für eine Perle unter den Neuerscheinungen in diesem Frühjahr.
Der Buchtipp dieser Woche stammt von Michael Luisier. Er empfiehlt «Schreibwelten. Wie Jane Austen, Stephen King, Haruki Murakami, Virginia Woolf u.v.a. ihre Bestseller schufen». Und tatsächlich geht es genau um das, was der Titel auch besagt: um die Orte, an denen Jane Austen, Stephen King, Haruki Murakami, Virginia Woolf und 45 weitere Autorinnen und Autorinnen ihre Bestseller geschaffen haben. Und das in Wort und Bild.
Buchhinweise:
* Lukas Bärfuss. Die Krume Brot. 224 Seiten. Rowohlt, 2023.
* Veronica Raimo. Nichts davon ist wahr. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. 223 Seiten. Klett-Cotta, 2023.
* Alex Johnson und James Oses. Schreibwelten. Wie Jane Austen, Stephen King, Haruki Murakami, Virginia Woolf u.v.a. ihre Bestseller schufen. Aus dem Englischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. 192 Seiten. wbg Theiss, 2023.
4/18/2023 • 23 minutes, 40 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Jeder Tag ist ein Geschenk
Lebenskluge Bücher – um sie geht es am Literaturstammtisch: Helga Schubert erzählt von ihrem Leben als Pflegerin ihres geliebten Mannes. Hansjörg Schneider erkundet spazierend und schreibend sein Leben als Senior. Und ein neuer Gedichtband, der eigentlich alt ist, ermöglicht lyrische Zaubermomente.
Ein ausserordentliches Vergnügen sei die Lektüre des neuen Buches von Hansjörg Schneider «Spatzen am Brunnen», sagt Michael Luisier. Der Romancier, Dramatiker und Krimi-Autor erinnert sich darin auf langen Spaziergängen durch vertraute Strassen seiner Wahlheimat Basel an seine Vergangenheit. Indem sich Hansjörg Schneider gleichzeitig Gedanken zu literarischen und philosophischen Themen macht, zeigt er sich aber auch wach für die Gegenwart.
«Der ewige Brunnen» ist eine der bekanntesten Sammlungen deutschsprachiger Gedichte. Die erste Auflage erschien vor knapp siebzig Jahren. Nun hat der Jenaer Literaturprofessor Dirk von Petersdorff die Sammlung neu herausgebracht. Noch immer sei die präsentierte Fülle mit 1'200 Gedichten enorm, sagt Felix Münger, aber sie sei zünftig entstaubt. So finden sich etwa Songtexte von Udo Lindenberg: Kurzum: Ein Buch, das sich perfekt eignet, um den Reichtum der Lyrik zu erkunden.
Buchhinweise:
* Helga Schubert. Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe. 272 Seiten. dtv, 2023.
* Hansjörg Schneider. Spatzen am Brunnen. Aus dem Tagebuch. 208 Seiten. Diogenes, 2023.
* Dirk von Petersdorff (Hrg.). Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. 1167 Seiten. C.H.Beck, 2023.
4/11/2023 • 27 minutes, 35 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Ausflug in die Vergangenheit
Der österreichische Autor Clemens J. Setz und der französische Autor Eric Vuillard erzählen in ihren neuen Romanen von Ereignissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Spuren bis in die Gegenwart reichen.
Seinen neuen Roman «Monde vor der Landung» widmet Clemens J. Setz einem Militärpiloten im Ersten Weltkrieg, der die Erdkrümmung zwar mit eigenen Augen sehen konnte, aber trotzdem überzeugt war, dass die Erde keine Kugel im All ist. Sondern eine hohle Kugel, auf deren Innenseite wir leben.
Diesen Militärpiloten, Peter Bender, gab es wirklich. Clemens J. Setz macht ihn zu einer tragisch-grotesken Figur. Und zeigt Parallelen auf zu heutigen Querdenker-Bewegungen. Simon Leuthold bringt den Roman an den Literaturstammtisch.
Der preisgekrönte Franzose Éric Vuillard erzählt in seinem neuen Buch «Ein ehrenhafter Abgang» in gewohnt ungewohnter Manier von einem historischen Einzelereignis. Dieses Mal nimmt er sich den blutigen Krieg vor, den Frankreich als Kolonialmacht von 1946 bis 1954 in Indochina führte.
Vuillard gelinge es in diesem Buch einmal mehr, die Geschichte «gegen den Strich zu bürsten» und so die Absurdität des Kriegs blosszustellen, findet Felix Münger. Die Art, wie Vuillard historische Fakten neu montiere und literarisch miteinander verbinde, ermögliche neue Einblicke in das grässliche Geschehen von damals.
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger den Debütroman des jamaikanisch-amerikanischen Autors Jonathan Escoffery vor. In «Falls ich dich überlebe» erzählt er von einer Einwandererfamilie, die in den USA ein neues Leben aufzubauen versucht. Und dabei mit Gewalt, Rassismus und Demütigung konfrontiert ist. Eindrücklich – mit bildhafter und wuchtiger Sprache zeigt er, was konstante Entwurzelung bedeuten kann.
Buchhinweise:
* Clemens J. Setz. Monde vor der Landung. 528 Seiten. Suhrkamp, 2023.
* Éric Vuillard. Ein ehrenhafter Abgang. Aus dem Französichen von Nicola Denis. 139 Seiten. Matthes & Seitz, 2023.
* Jonathan Escoffery: Falls ich dich überlebe. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. 288 Seiten. Piper, 2023.
4/4/2023 • 26 minutes, 37 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Tonio Schachinger und Werner Ryser
«Echtzeit» von Tonino Schachinger und «Windhauch, das ist alles Windhauch» von Werner Ryser sind Thema am Literaturstammtisch im SRF-BuchZeichen. Ebenfalls mit dabei: Ursus Wehrlis neustes Buch «Unnütze Dinge. Ein Katalog von Sachen, die niemand braucht, und trotzdem keiner haben will.»
Nach der Welt eines Fussballstars nimmt sich der 31jährige österreichische Autor Tonio Schachinger in seinem zweiten Roman «Echtzeitalter» ein Wiener Elitegymnasium vor. Das Marianum ist eine traditionsreiche Schule für den Nachwuchs der Reichen und Einflussreichen. Die Kinder wiederum wissen in dieser Schule schon mit zehn, dass sie einmal Jura, Wirtschaft oder Medizin studieren wollen (oder sollen). Till fällt da etwas aus dem Rahmen: Ohne dass es jemand mitbekäme, gehört er in seiner Kategorie weltweit zu den zehn besten Spielern eines Echtzeitstrategiespiels. Wie Till mit „Age of Empires 2 acht Jahre Schulzeit übersteht, erzählt Tonio Schachinger in einem witzigen und berührenden Buch, das Franziska Hirsbrunner am Literaturstammtisch vorstellt.
André Perler kommt mit «Windhauch, das ist alles Windhauch» dem vierten und letzten Teil von Werner Rysers Diepoldswiler-Saga in die Sendung. Darin kehren die Nachfahren von Simon Diepoldswiler, der 1866 aus dem Emmental nach Georgien ausgewandert ist, in die Schweiz zurück. Das riesige Bauerngut, das Simon unter der Zarenherrschaft aufgebaut hat, geht unter der kommunistischen Herrschaft verloren. Und um nicht auch noch deportiert oder gar ermordet zu werden, wandern einige Diepoldswilers in das ihnen unbekannte Land ihrer Vorfahren aus: die Schweiz.
Der Buchtipp der Woche stammt von Michael Luisier: Er stellt «Unnütze Dinge», das neuste Buch des Künstlers und Kabarettisten Ursus Wehrli vor, ein Buch voller Sachen, die niemand braucht und trotzdem keiner haben will.
Buchhinweise:
* Tonio Schachinger. Echtzeitalter. 364 Seiten. Rowohlt Verlag, 2023.
* Werner Ryser. Windhauch, das ist alles Windhauch. 260 Seiten. Cosmos Verlag, 2023.
* Urus Wehrli. Unnütze Dinge. Ein Katalog von Sachen, die niemand braucht, und trotzdem keiner haben will. 180 Seiten. Kein & Aber, 2023.
3/28/2023 • 24 minutes, 38 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Julia Schoch und Daniel Glattauer
Wohin geht die Liebe, wenn sie geht? Diese Frage stellt die deutsche Autorin Julia Schoch in ihrem neuen Roman. Und der österreichische Autor Daniel Glattauer greift ein aktuelles gesellschaftliches Thema auf.
In Julia Schochs neuem Roman «Das Liebespaar des Jahrhunderts» geht es um eine Frau, die ihren Mann verlassen will. Doch bevor sie das tut, lässt sie die gemeinsamen Jahrzehnte Revue passieren.
SRF-Literaturredaktorin Katja Schönherr ist begeistert von diesem Buch.
Man könne kaum schöner, kaum ehrlicher über die Ernüchterung schreiben, die auf die anfängliche Verliebtheit folgt, als Schoch es in diesem Roman getan hat.
Wieviel ist ein Menschenleben wert? Dieser Frage geht der österreichische Autor Daniel Glattauer in seinem aktuellen Roman «Die spürst du nicht» nach. Anhand einer Tragödie in einer Flüchtlingsfamilie lässt er Menschen zu Wort kommen, die in unserer privilegierten Gesellschaft oft nicht gehört werden.
Michael Luisier legt das Buch auf den Literaturstammtisch.
Die irische Autorin Christina Dwyer Hickey nimmt ihre Leser:innen mit in die 1950-er Jahre, nach Neu England. In ihrem Roman «Schmales Land» erzählt sie vom Künstlerehepaar Edward und Josephine Hopper. Sie verknüpft die Geschichte mit dem Schicksal eines zehnjährigen Jungen. Ein Roman wie ein Hopper-Gemälde, findet Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* Julia Schoch. Das Liebespaar des Jahrhunderts. 190 Seiten. dtv, 2023.
* Daniel Glattauer. Die spürst du nicht. 304 Seiten. Zsolnay, 2023.
* Christine Dwyer Hickey. Schmales Land. Aus dem Englischen von Uda Strätling. 416 Seiten. Unionsverlag, 2023.
3/21/2023 • 24 minutes, 7 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Drei «Grandes Dames et Messieurs» der Schweizer Literatur
Mit Franz Hohler wandern wir «Rheinaufwärts». Mit Christian Hallers «Sich lichtende Nebel» überschreiten wir mentale Grenzen. Und mit Leta Semadeni lyrischem Erzählen springen wir von Zeile zu Zeile.
Verteilt auf zweieinhalb Jahre wanderte Franz Hohler dem Rhein entlang, von Schaffhausen bis zur Quelle des Vorderrheins. In «Rheinaufwärts» nehmen wir beim Lesen nicht nur das Bild einer Landschaft und ihrer Geschichte mit, sondern auch Impressionen von Alltäglichem und Merkwürdigem. Und: der Rhein wird einem zum Freund. Das sagt Markus Gasser, der das Buch mit an den Literaturstammtisch nimmt.
Im Zentrum von Christian Hallers Novelle «Sich lichtende Nebel» stehen zwei Männer: der junge Physiker Werner Heisenberg, der die Theorie der Quantenmechanik entwickeln wird und der pensionierte Geschichtsprofessor Helstedt, der um seine Frau trauert. Doch trotz unterschiedlicher Ausgangslage sind beide mit derselben Frage konfrontiert: Existiert etwas nur, wenn ich es sehe? Ein schwebendes Buch über Grenzen und Möglichkeiten der Wahrnehmung, findet Britta Spichiger, die die Novelle sehr empfiehlt.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König die Grand Prix Literatur-Preisträgerin Leta Semadeni vor. Die Schriftstellerin schreibt lyrische Prosa. Ob Roman oder Gedicht, das Erzählerische findet sich im Lyrischen, das Lyrische im Erzählerischen. Diese Synthese macht Leta Semadenis Schreiben aus und zeigt sich wunderbar in ihrem Gedichtsammelband «Ich bin doch auch ein Tier».
Buchhinweise:
* Franz Hohler. Rheinaufwärts. 125 Seiten. Luchterhand Verlag, 2023.
* Christian Haller. Sich lichtende Nebel. 122 Seiten. Luchterhand Verlag, 2023.
* Leta Semadeni. Ich bin doch auch ein Tier. Gesammelte Gedichte. Rätoromanisch - Deutsch. 192 Seiten. Atlantis Verlag, 2022.
3/14/2023 • 24 minutes, 21 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Bücher von Tine Melzer und Milena Michiko Flašar
Am Literaturstammtisch im BuchZeichen diskutieren Britta Spichiger und Annette König über neue Romane von Tine Melzer und Milena Michiko Flašar. Gastgeber ist Michael Luisier.
In ihrem Debütroman «Alpha Bravo Charlie» erzählt die Künstlerin und Autorin Tine Melzer von einem pensionierten Linienpiloten: Johann Trost. Auch als Rentner hält er sich strikt an Regeln und die eigenen Prinzipien. Aber er muss sich nun vermehrt mit seinen Mitmenschen auseinandersetzen, und das fällt ihm nicht leicht. Er flüchtet in seine eigene Welt – und baut eine Modellbaulandschaft. Britta Spichiger gefällt die präzise, bildhafte Sprache des Romans und die Auseinandersetzung mit einer Frage, die wohl uns alle beschäftigt: wie finden wir unseren Platz auch in einem späteren Lebensabschnitt?
Der neue Roman «Oben Erde, unten Himmel» der Österreicherin Milena Michiko Flašar erzählt von einer jungen Frau, die ihren Job verliert und gesellschaftlich durchzufallen droht. Doch dann erhält sie ein ungewöhnliches Jobangebot. Sie wird Reinigungskraft an Leichenfundorten. «Oben Erde, unten Himmel» ist ein tiefsinniger Roman über das aktuelle Leben in Japan, findet Annette König, die das Buch am Literaturstammtisch empfiehlt.
Der Buchtipp der Woche ist ein Bilderbuch: Michael Luisier empfiehlt «Herr Unverwechselbar» der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und illustriert von Joanna Concejo. Eine beeindruckende Parabel über Selbstdarstellung, den Wunsch nach Anerkennung und die Gefahr, sein Gesicht und damit sich selbst zu verlieren.
Buchhinweise:
* Tine Melzer. Alpha Bravo Charlie. 126 Seiten. Jung und Jung, 2023.
* Milena Michiko Flašar. Oben Erde, unten Himmel. 304 Seiten. Wagenbach. 2023.
* Olga Tokarczuk, Joanna Concejo. Herr Unverwechselbar. Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein. 48 Seiten. Kampa, 2023.
Weitere Themen:
- Shortlist Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis 2023
3/7/2023 • 20 minutes, 43 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Terror, Tod, Trauer
Percival Everetts neuer Roman «Die Bäume» erzählt von Lynchjustiz. Karl Alfred Loesers Roman «Requiem» von den Mechanismen des Terrors. Und Emmanuelle Fournier-Lorentzs Debüt «Villa Royal» ist die Flucht einer Familie vor der Trauer.
Für seinen Roman «Die Bäume» hat sich der US-Autor Percival Everett für eine Mischung aus Thriller, Komödie und Geschichts-Aufarbeitung entschieden. Diese Mischung hätte schiefgehen können. Aber Everett ist ein stimmiges Werk gelungen, das man nicht mehr aus der Hand lege – und das den vielen schwarzen Opfern von Lynchjustiz in den USA ein Denkmal setzt, findet Literaturredaktorin Katja Schönherr.
Dass wir den Roman «Requiem» heute lesen können, ist eine kleine Sensation. Karl Alfred Loesers Text blieb Zeit seines Lebens unentdeckt. Erst nach seinem Tod, 1999, fand die Familie das Buchmanuskript. Nun ist der Roman über einen jüdischen Musiker im nationalsozialistischen Deutschland veröffentlicht worden. Tim Felchlin ist fasziniert von der Klarsicht, mit der Loser die Mechanismen des Terrors durchschaut – und das noch vor Beginn des Holocaust.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König das aussergewöhnliche Debüt «Villa Royal» von der Französin Emmanuelle Fournier-Lorentz vor. In starken, intensiven Bildern lässt uns die Autorin Teil eines Familiengefüges werden, das nach dem Tod des Vaters, verzweifelt einen Ausweg aus der Trauer sucht.
Buchhinweise:
* Percival Everett. Die Bäume. 360 Seiten. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 2023.
* Karl Alfred Loeser. Requiem. 320 Seiten. Klett-Cotta, 2023.
* Emmanuelle Fournier-Lorentz. Villa Royal. Aus dem Französischen von Sula Textor. 288 Seiten. Dörlemann, 2023.
2/28/2023 • 22 minutes, 40 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Frauen und ihr direkter Blick aufs Leben
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja schreibt in ihrem neuem Buch über die drängenden Fragen unserer Zeit genauso wie über ihre persönlichen Erfahrungen. Die niederländische Schriftstellerin Simone Atangana Bekono thematisiert strukturellen Rassismus.
Mit «Die Erinnerung nicht vergessen» veröffentlicht die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja den zweiten Band autobiografischer Prosa. Persönliche Notizen über ihre Familie, über Herkunft und Glauben, über den eigenen Körper und seine Narben stehen neben den drängenden Fragen zur aktuellen politischen und ökologischen Situation. Für Michael Luisier sind diese Texte jetzt schon ein Vermächtnis der im Berliner Exil lebenden Schriftstellerin.
«Salomés Zorn» - so heisst das Debüt der niederländischen Schriftstellerin Simone Atangana Bekono. Sie erzählt darin von der sechzehnjährigen Salomé, die früh gelernt hat, einzustecken. Doch als sie eines Tages wieder wegen ihrer Hautfarbe gemobbt und schikaniert wird, schlägt sie auf einen ihrer Widersacher ein, bis dieser ein Auge verliert. Salomé verbringt sechs Monate in der Jugendstrafanstalt.
«Ein Debüt, das mit ungeheurer Wut von strukturellem Rassismus und Fremdsein erzählt und vor Nichts die Augen verschliesst», sagt Annette König, die das Buch an den Literaturstammtisch mitbringt.
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger einen wiederentdeckten Klassiker vor: «Wo wenig Regen fällt» der US-amerikanischen Autorin Mary Hunter-Austin. Sie schreibt über den Südwesten der USA und beobachtet das Zusammenleben von Menschen, Tieren und Pflanzen in einer in vielerlei Hinsicht ganz besonderen Landschaft. Ihr Blick ist nicht analytisch, sondern empathisch. In ihren Augen ist die Gegend nicht in erster Linie geprägt vom Überlebenskampf, sondern von einer mystischen Macht. Frei von Kitsch oder Pathos, haben ihre literarischen Skizzen auch über 100 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nichts von ihrer Leuchtkraft verloren.
Buchhinweise:
* Ljudmila Ulitzkaja. Die Erinnerung nicht vergessen. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links. 192 Seiten. Carl Hanser, 2023.
* Simone Atangana Bekono. Salomés Zorn. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm. 246 Seiten. C.H.Beck, 2023.
* Mary Austin-Hunter. Wo wenig Regen fällt. Aus dem Amerikanischen von Alexander Pechmann. 224 Seiten. Jung und Jung, 2023.
2/21/2023 • 27 minutes, 38 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Schweizer Literatur
Die beiden Romane «Gesund genug» von Ursula Fricker und «Lieblingstochter» von Sarah Jollien-Fardel sind Thema am Literaturstammtisch im BuchZeichen auf SRF1.
Die Tochter ahnt schon, was kommt, als bei ihr in Berlin das Telefon klingelt. Der Vater liegt zuhause in der Schweiz im Sterben – Darmkrebs im Endstadium. Ausgerechnet er, ein Gesundheitsfanatiker, der für die Krankheiten der anderen nur Häme übriggehabt hatte. Am Sterbebett des Vaters denkt die Tochter darüber nach, warum der Vater die Familie in eine Gesundheitssekte verwandelt hatte. Das ist der Ausgangspunkt in Ursula Frickers Roman «Gesund genug», den Franziska Hirsbrunner mit in die Sendung bringt.
Nicola Steiner stellt den Roman «Lieblingstochter» von Sarah Jollien-Fardel vor. Ein Dorf im Wallis. Ein Familienvater, der seine Frau und die beiden Töchter schlägt, die ältere sexuell missbraucht. Die Frauen wehren sich nicht, aus gutem Grund. Das Dorf weiss, was vor sich geht, und schweigt. Aus diesem Trauma muss Jeanne ihren Weg finden. Doch schafft sie es, sich zu befreien? Der Roman der Walliser Autorin war im letzten Jahr für den Prix Goncourt nominiert und erhielt den Prix du Roman Fnac und dem Choix Goncourt de la Suisse 2022.
Der Literatur-Tipp der Woche kommt von Michael Luisier. Anlässlich des 125. Geburtstags des Dichters und Dramatikers Bertolt Brecht am 10. Februar empfiehlt er, sich wieder einmal vertieft mit Brechts Werk zu beschäftigen.
Buchhinweise:
* Ursula Fricker. Gesund genug. 240 Seiten. Atlantis Verlag, 2022.
* Sarah Jollien-Fardel. Lieblingstochter. 221 Seiten. Aufbau Verlag, 2023.
* Bertolt Brecht. Unsere Hoffnung heute ist die Krise. Interviews 1926-1956. Herausgeber: Noah Willumsen. 750 Seiten. Suhrkamp Taschenbuch, 2023.
* Bertolt Brecht. Gedichte über die Liebe. Ausgewählt von Werner Hecht. 240 Seiten. Suhrkamp Taschenbuch, 1984.
2/14/2023 • 26 minutes, 5 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Bücher von Virginie Despentes und Michael Köhlmeier
Die Bücher am Literaturstammtisch bergen Zündstoff: Virginie Despentes durchleuchtet die Absurditäten unserer Zeit. Michael Köhlmeier schildert eine konfliktgeladene Beziehung zwischen Enkel und Grossvater. Und Volker Ullrich analysiert das stürmische deutsche Krisenjahr 1923.
Der Roman «Liebes Arschloch» von Virginie Despentes war im letzten Herbst ein Mega-Bestseller in Frankreich. Nun liegt das Buch auf Deutsch vor. Darin verhandelt die französische Autorin viele Themen unserer Zeit auf raffinierte, amüsante und kluge Weise.
Es geht um sexuelle Übergriffe und verkrustete Machtstrukturen, um Alter und Schönheit, Drogen- und Suchtprobleme, die Corona-Pandemie, Klassenfragen und Mobbing in den sozialen Medien. Nicola Steiner stellt das Buch am Stammtisch vor und erklärt, warum sich auch im deutschen Sprachraum zweifelsohne viele darin wiederfinden werden.
Michael Luisier bringt «Frankie», den neusten Roman des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier an den Stammtisch. Als Franks Grossvater nach 18jähriger Gefangenschaft aus dem Gefängnis entlassen wird, gerät das Leben des 14jährigen Teenagers durcheinander.
Der alte Mann reisst den Jungen an sich, einmal tyrannisch, einmal zärtlich. Am Ende stehen sich die beiden auf einer Autobahnraststätte gegenüber wie bei einem Duell. Das Buch ist eine rasante Road Novel, in der es um Initiation, Rebellion und Befreiung geht. Und um die ewige Faszination des Bösen.
Ruhrkrise, Hyperinflation, Hitler-Putsch – der renommierte deutsche Historiker Volker Ullrich widmet sein aktuelles historisches Sachbuch dem Jahr 1923. Es zählt zu den turbulentesten in der deutschen Geschichte.
Felix Münger beeindruckt, wie «Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund» die sich überschlagenden Ereignisse von damals entwirrt, ihre gegenseitige Bedingtheit sichtbar macht und dabei ein auch für Laien verständliches historisches Panorama eröffnet.
Buchhinweise:
* Virginie Despentes. Liebes Arschloch. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. 336 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2023.
* Michael Köhlmeier. Frankie. 200 Seiten. Hanser 2023.
* Volker Ullrich. Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. 441 Seiten. C.H.Beck 2022.
Weitere Themen:
- Briefe und Bücher
2/7/2023 • 28 minutes, 30 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: True Crime
Alex Capus Roman «Fast ein bisschen Frühling» geht auf den spektakulärsten Kriminalfall zurück, den Basel je gehabt hat. Andrea Maria Schenkels Roman «Der Erdspiegel» liefert ein Psychogram des Mädchenmörders Andreas Bichel und «Kaltblütig» von Truman Capote hat den Genre des True Crimes begründet.
Alex Capus Roman «Fast ein bisschen Frühling» spielt in den Jahren 1933 / 34 und geht auf den spektakulärsten Kriminalfall zurück, den Basel je gehabt hat. Kurt Sandweg und Waldemar Velte, zwei arbeitslose Burschen, wollen aus Nazideutschland fliehen. Unterwegs überfallen sie eine Bank, töten einen Angestellten und stranden schliesslich in Basel. Dort verliebt sich einer von ihnen in eine Schallplattenverkäuferin im Warenhaus Globus. Tag für Tag kauft er bei ihr Tango-Platten, bis das Geld aufgebraucht ist und der nächste Banküberfall ansteht. Bis heute sind die Spuren des äusserst blutigen Falls in Basel zu sehen. Michael Luisier, der das Buch mit grossem Interesse gelesen hat, kann auch erzählen, wo diese zu finden sind.
Mit ihrem Krimidebüt «Tannöd» gelang Andrea Maria Schenkel 2006 ein Riesenerfolg. In ihrem neusten Roman «Der Erdspiegel» erzählt Schenkel erneut von schauerhaften, historischen Mordfällen. In einem kleinen bayerischen Dorf um 1800 verschwinden nacheinander junge Frauen spurlos. Dass der Bichel etwas damit zu tun haben könnte, glauben vorerst die wenigsten. Er ist doch ein anständiger Mann, ein guter Nachbar und er redet wie ein Gelehrter. Aber der Bichel ist ein Menschenfänger und er weiss die Leichtgläubigkeit der Menschen, vor allem junger Frauen, auszunutzen. Ein True Crime, der überzeugt, findet Tim Felchlin, weil er die Psychologie eines Mörders und einer ganzen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert ausbreitet.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König «Kaltblütig» von Truman Capote vor. Darin wird die Ermordung einer vierköpfigen Farmerfamilie rekonstruiert. Es ist ein Tatsachenroman, der mehr fesselt als ein Thriller. Capote hat damit nicht nur den New Journalism begründet, sondern auch den Genre True Crime.
Buchhinweise:
* Alex Capus. Fast ein bisschen Frühling. 190 Seiten. Residenz, 2002. Neuerscheinung Hanser, 2012.
* Andrea Maria Schenkel. Der Erdspiegel. 192 Seiten. Kampa, 2023.
* Truman Capote. Kaltblütig. Aus dem Amerikanischen von Kurt Heinrich Hansen. 480 Seiten. 36. Auflage. Rowohlt, 1975.
* Truman Capote. Kaltblütig. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. 544 Seiten. Kein & Aber, 2013.
1/31/2023 • 23 minutes, 13 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen: Ein hochaktueller Roman und eine magische Geschichte
In ihrem Briefroman zeigen Juli Zeh und Simon Urban zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen der Welt. Und Karin Smirnoff erzählt in ihrem neuen Buch von Düsternis – und was man ihr entgegenhalten kann.
Bestseller-Autorin Juli Zeh wartet mit einem neuen Buch auf. Dafür hat sie sich mit einem anderen Schriftsteller, nämlich Simon Urban, zusammengetan. Entstanden ist ein moderner Briefroman in Form von Emails und Handy-Nachrichten, in denen sich eine brandenburgische Landwirtin und ein Hamburger Kulturjournalist über ihre Sicht auf die Welt austauschen – und die geht immer weiter auseinander. «Zwischen Welten» funktioniere erzählerisch nicht immer, findet Katja Schönherr. Jedoch sei der Roman ein hochaktuelles Abbild der Meinungsgräben in unserer Gesellschaft.
Agnes ist das titelgebende «Wunderkind» in Karin Smirnoffs Roman. Sie spielt meisterhaft Klavier, denkt sich Symphonien aus und sie spricht mit Tieren. Aber Agnes lebt in keiner glücklichen Welt. Sie und ihre zwei Freunde erleben Mutterhass, Mobbing, Tod und sexuellen Missbrauch. Glück finden sie in der Musik. Und mit einem absurd lakonischen Blick auf die Welt entheben sie sich aus den Übeln ihrer Kindheit. Tim Felchlin staunt, wie die schwedische Autorin die Balance hält zwischen Düsternis, Galgenhumor und wundervoller Fantasie. Ein magischer Roman über das Böse der Welt.
Im Roman «Die Liebe an miesen Tagen» erzählt der deutsche Autor Ewald Arenz von einer Beziehung zwischen zwei Menschen, die mitten im Leben stehen. Beide haben einander nicht gesucht – und doch gefunden. Offen und ungekünstelt gehen sie aufeinander zu und geniessen das unerwartete Glück. Und dann kommt das Leben dazwischen. Britta Spichiger stellt den Roman im heutigen Kurztipp vor. Ihr gefällt, dass Arenz ruhig und authentisch erzählt. Und wie er ganz nebenbei die Frage stellt, die wohl alle Paare beschäftigt: wie wichtig ist das «Ich»? Wie wichtig das «Wir»?
Buchhinweise:
* Juli Zeh, Simon Urban. Zwischen Welten. 480 Seiten. Luchterhand, 2023.
* Karin Smirnoff. Wunderkind. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. 320 Seiten. Carl Hanser, 2023.
* Ewald Arenz. Die Liebe an miesen Tagen. 379 Seiten. DuMont, 2023.
1/24/2023 • 27 minutes, 18 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Autofiktionales und Autobiographisches
Die Literaturstammtischrunde im SRF1 Buchzeichen bespricht das autofiktionale Buch «In einer dunkelblauen Stunde» des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm und den autobiographischen Roman «Dry», die Alkoholsuchtgeschichte der deutschen Autorin Christine Koschmieder.
Andrea will mit ihrem Team einen Dokumentarfilm über den Schriftsteller Richard Wechsler drehen. Die Dreharbeiten in Paris sind schon im Kasten, aber zu den Aufnahmen an seinem Heimatort in der Schweiz, taucht Wechsler nicht auf. Das Filmprojekt droht zu scheitern. Doch liegt nicht in jedem Scheitern ein Neuanfang? Ein Buch über die Geheimnisse des Lebens. Ungewohnt verspielt, sinnlich und tiefgründig, findet Annette König, die das Buch wie ein Zwiegespräch mit dem Schriftsteller empfunden hat, was sie gerne noch eine Weile länger fortgeführt hätte.
In ihrem autobiographischen Roman «Dry» berichtet die deutsche Autorin Christine Koschmieder von ihrem Weg in die Alkoholsucht -- und aus ihr heraus. Mehrere Schicksalsschläge hat Koschmieder hinter sich. Ihr Mann ist früh gestorben. Jahrelang meistert sie ihren Alltag als berufstätige, alleinerziehende Mutter. Kurz: Sie funktioniert, Tag für Tag. Dem Druck hält sie aber nur mit Alkohol stand. In ihrem Buch rollt Koschmieder nun ihr Leben auf - schonungslos offen und ehrlich, ohne Larmoyanz. Ein überaus berührendes Buch, findet Literaturredaktorin Katja Schönherr.
Der Buchtipp diese Woche stammt von Michael Luisier. Er empfiehlt «Das Glück steht mir nicht im Weg – Komische Lyrik und anderes», das Buch der Liedermacherin und Kabarettistin Uta Köbernick.
Buchhinweise:
* Peter Stamm. In einer dunkelblauen Stunde. 256 Seiten. S. Fischer, 2023.
* Christine Koschmieder. Dry. 250 Seiten. Kanon Verlag, 2022.
* Uta Köbernick. Das Glück steht mir nicht im Weg. Komische Lyrik und anderes. 100 Seiten. edition merk würdig, 2022.
1/17/2023 • 20 minutes, 55 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Drei Definitionen von Glück
Die drei Bücher auf dem heutigen Literaturstammtisch erzählen unter anderem von einem glücklichen Geheimnis, der Herausforderung, wenn zwei Liebende aus ganz unterschiedlichen Welten kommen – und der Bedeutung von Erinnerungen.
In seinem neuen autobiographischen Buch «Das glückliche Geheimnis» erzählt der in Wien lebende österreichische Erfolgsautor Arno Geiger von seinem langen Weg zur Schriftstellerei, von seinen alternden Eltern und von der grossen Liebe. Zudem lüftet er das Geheimnis, dass er über Jahrzehnte ein Doppelleben geführt hat: Er durchstreifte im Geheimen regelmässig die Stadt und durchwühlte Behältnisse für Altpapier - auf der Suche nach Briefen und anderen persönlichen Dokumenten wildfremder Menschen.
Felix Münger beeindruckt die Offenheit, mit der Arno Geiger von seinem mit gesellschaftlicher Scham behafteten Tun erzählt. Das ihm aber auch den Zugang zu anderen Lebenswirklichkeiten eröffnete – und ihn als Künstler inspirierte.
Die chinesische Autorin Xiaolu Guo thematisiert in ihrem Roman «Eine Sprache der Liebe» was geschieht, wenn zwei Liebende aufeinandertreffen, die aus unterschiedlichen Kulturen stammen: Eine junge Chinesin kommt nach London. Und verliebt sich in einen Australier mit britisch-deutschen Wurzeln. Neugier, Fremdheit und Missverständnisse prägen die Beziehung – aber auch die Chance einer gegenseitigen, neuen Heimat. Nicola Steiner bringt den Roman an den Literaturstammtisch.
«Was bleibt, ist die Freude» - der spanische Autor Manuel Vilas erzählt in diesem Buch von den grossen Abwesenden in seinem Leben: den verstorbenen Eltern und den beiden erwachsenen Söhnen, die ihr eigenes Leben leben. Vilas blendet zurück in die Vergangenheit und lässt auch die kleinste Erinnerung glänzen. Trotzdem ist nichts unbelastet – die Depression des Autors ist allgegenwärtig. Den Hang zum Melodramatischen im Lauf der Geschichte verzeiht man ihm, findet Britta Spichiger. Denn die Lektüre zeigt auch, wie tröstlich Literatur sein kann.
Buchhinweise:
* Arno Geiger. Das glückliche Geheimnis. 237 Seiten. Hanser, 2023.
* Xiaolu Guo. Eine Sprache der Liebe. Aus dem Englischen von Anne Rademacher. 304 Seiten. Penguin, 2022.
* Manuel Vilas. Was bleibt, ist die Freude. Aus dem Spanischen von Astrid Roth. 400 Seiten. Berlin, 2022.
Weitere Themen:
- Bücher, in denen Grosseltern eine Hauptrolle spielen
1/10/2023 • 29 minutes, 10 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Drei Klassiker
Drei Werke der Weltliteratur am Literaturstammtisch im BuchZeichen auf SRF1: «Mrs. Dalloway» von Virginia Woolf, «Wem die Stunde schlägt» von Ernest Hemingway und «Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg» von Jaroslav Hašek.
London 1923, ein Tag im Juni. Mrs. Clarissa Dalloway, Anfang 50 und verheiratet mit Richard Dalloway, gibt am Abend einen Empfang. Die ganze High Society der Stadt ist eingeladen, inklusive Premierminister. Doch vorher muss noch viel erledigt werden. Das ist der Ausgangpunkt des Romans «Mrs. Dalloway» von Virginia Woolf, der nun in einer neuen Übersetzung von Melanie Walz vorliegt. Erzählt wird aber keine Geschichte. Was den Roman sensationell macht, ist Virginia Woolfs Sprache – und die Splitter, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen, die sie zu einem Panorama der Gesellschaft nach dem ersten Weltkrieg zusammensetzt. Für Nicola Steiner, die das Buch mit in die Sendung bringt, ist dies einer der besten Romane des 20. Jahrhunderts.
Liebe, Krieg und Tod. Die drei grössten Themen der Literatur verdichtet Ernest Hemingway in seinem monumentalen Roman «Wem die Stunde schlägt» aus dem Jahr 1940, den Tim Felchlin vorstellt. Im spanischen Bürgerkrieg kämpft der amerikanische Sprengstoffspezialist Robert Jordan zusammen mit einer Schar widerständiger Republikaner gegen die Faschisten Francos. Während drei Tagen bildet sich eine Schicksalsgemeinschaft, in der Jordan Liebe findet und Verrat erfährt. In seinem vielleicht bedeutendsten Roman verarbeitete Hemingway seine Erfahrungen als Kriegsreporter. Dabei bringt er die Ambivalenz zum Ausdruck, die jedem Krieg eigen ist und jede Generation aufrüttelt.
Der Tipp der Woche stammt von Michael Luisier. Zum 100. Todestag Jaroslav Hašeks am 3. Januar 2023 stellt er dessen Klassiker in Sachen satirisch-humoristischer Literatur «Die Abendteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg» vor.
Buchhinweise:
* Virginia Woolf. Mrs. Dalloway. Neu übersetzt von Melanie Walz. 400 Seiten. Manesse, 2022.
* Ernest Hemingway. Wem die Stunde schlägt. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. 624 Seiten. Rowohlt, 2022.
* Jaroslav Hašek. Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Übersetzung aus dem Tschechischen, Kommentar und Nachwort von Antonín Brousek. 1008 Seiten. Reclam Bibliothek, 2014.
1/3/2023 • 27 minutes, 19 seconds
Ein geheimes Hotel und ein betrunkener Berg
Zwei der Bücher auf dem heutigen Literaturstammtisch vermischen Reales und Irreales. Die deutsche Schriftstellerin Anne Köhler und der österreichische Schriftsteller Heinrich Steinfest erzählen in ihrem Romanen von Flucht aus dem eigenen Leben und Bewältigung der Vergangenheit.
Ein geheimes Hotel für alle, die ihrem Alltag entfliehen wollen: Wer wünscht sich nicht hin und wieder an einen solchen Ort? Die deutsche Autorin Anne Köhler hat ein verstecktes Hotel zum Thema ihres Buches «Nicht aus der Welt» gemacht. Ein wunderbarer Schmöker! Wenn es dieses Hotel schon leider nicht «in echt» gibt, so kann man wenigstens in diesem Roman eine Auszeit finden, lobt Katja Schönherr.
Der österreichische Schriftsteller Heinrich Steinfest vermischt auch in seinem neuen Roman «Der betrunkene Berg» Reales und Irreales. Schauplatz ist unter anderem eine Buchhandlung auf 1800 Meter über Meer. Steinfest erzählt von drei Menschen, die mit der Bewältigung ihrer Vergangenheit konfrontiert sind, aber auch Hoffnung auf Rettung haben. Michael Luisier bringt das Buch an den Literaturstammtisch.
Im Roman «People Person» nimmt die britische Schriftstellerin Candice Carty-Williams die Leserschaft mit in ein turbulentes Familienleben. Fünf Kinder - mit einem gemeinsamen Vater, aber vier unterschiedlichen Müttern – raufen sich zusammen. Carty-Williams erzählt bildhaft und präzis vom Alltag der Schwarzen Community in London. Und spricht dabei aktuelle gesellschaftliche Probleme an: Rassismus, Sexismus, Polizeigewalt. Die Unmittelbarkeit des Erzähltons ist die grosse Qualität des Romans, findet Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* Anne Köhler. Nicht aus der Welt. 352 Seiten. DuMont Buchverlag, 2022.
* Heinrich Steinfest. Der betrunkene Berg. 224 Seiten. Piper Verlag, 2022.
* Candice Carty-Williams. People Person. 430 Seiten. Blumenbar Verlag, 2022.
12/27/2022 • 24 minutes, 52 seconds
Historisch und kriminalistisch: Aktuelle Buchempfehlungen
Zwei Schweizer Autoren sind Thema am Literatur-Stammtisch im BuchZeichen. Zum einen Lukas Hartmann mit seinem historischen Roman «Ins Unbekannte - Die Geschichte von Sabina und Fritz», zum anderen Raphael Zehnder mit seinem neusten Krimi «Müller und der Himmel über Basel».
Im Roman «Ins Unbekannte» verknüpft der Bestsellerautor Lukas Hartmann die Lebensgeschichten der Psychoanalytikerin Sabina Spielrein und des Schweizer Kommunisten Fritz Platten. Beide erleiden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion ein grässliches Los. Die Wege der zwei historischen Figuren haben sich nur einmal gekreuzt. Dennoch gelinge es Lukas Hartmann die Geschichten der beiden originell aufeinander zu beziehen, findet Felix Münger. Einmal mehr bereite der Berner Autor ein historisches Thema literarisch attraktiv auf.
Die Gesellschaft ist aus dem Lot, auch in Basel. Nicht bloss wegen der seltsamen Serie von Angriffen auf Wirtschaftsbosse und von rabiaten Alten an der Supermarktkasse. Kommissär Müller beobachtet in seinem neunten Fall besorgt, wie Medienmechanismen, Machtstrukturen und Bürokratie immer monströser werden. Gesellschaftskritik, gewiss. Aber selten kommt sie so spielerisch, zitatenreich und ironisch-gelehrt daher. Eine meisterhafte literarische Satire, findet Literaturredaktor Markus Gasser.
Der Tipp dieser Woche kommt heute von Michael Luisier. Er empfiehlt «Die Philosophie des modernen Songs» von Bob Dylan, Dylans persönliche Auswahl seiner 66 Lieblingssongs.
Buchhinweise:
* Lukas Hartmann. Ins Unbekannte - Die Geschichte von Sabina und Fritz. 288 Seiten. Diogenes, 2022.
* Raphael Zehnder. Müller und der Himmel über Basel. 303 Seiten. emons, 2022.
* Bob Dylan. Die Philosophie des modernen Songs. Aus dem Englischen von Conny Lösch. 350 Seiten. CH Beck, 2022.
12/20/2022 • 24 minutes, 21 seconds
Die dunklen Seiten des Alltags
Jennie Fields erzählt von einer Wissenschaftlerin, die sich zwischen Herz und Gewissen entscheiden muss. Heinz Helle grübelt in seinem journalistischen Selbstbekenntnis über die dunkle Seite seines Mann-Seins. Und Sayaka Muratas beunruhigt nachhaltig mit zwölf makabren Kurzgeschichten.
Chicago 1950: Rosalind ist eine starke, unabhängige Frau. Und eine herausragende Wissenschaftlerin, die am Bau der Atombombe mitbeteiligt war. Traumatisiert von den Auswirkungen ihrer Arbeit, hat sie sich ein neues Leben aufgebaut. Aber die Vergangenheit holt sie ein. In ihrem Roman «Die Unteilbarkeit der Liebe» erzählt die US-amerikanische Autorin Jennie Fields von einer Frau, die sich zwischen Herz und Gewissen entscheiden muss. Authentisch, mitreissend und atmosphärisch dicht. Gute Unterhaltungsliteratur, die einen abtauchen lässt, findet Britta Spichiger.
Er ist Schriftsteller, Ehemann und zweifacher Vater. Und in jeder seiner Rollen stellt er sich selbst infrage. «Wellen» von Heinz Helle ist eine journalartige Selbsterkenntnis – irgendwo zwischen intimer Autobiographie und Fiktion. Inmitten voller Windeln und Playmobilfiguren grübelt der Ich-Erzähler über Vaterschaft und die dunklen Seiten seines Mann-Seins. Und immer wieder findet er Halt und Zärtlichkeit im Familienalltag. Tim Felchlin bringt den Roman an den Stammtisch. Er ist berührt von der Aufrichtigkeit, mit der Heinz Helle von den Ängsten, Unsicherheiten und Sehnsüchten eines sogenannt modernen Mannes erzählt.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König «Zeremonie des Lebens» von Sayaka Murata vor. Der Sammelband umfasst zwölf kluge Storys über das heutige Japan, die in einer beunruhigenden Fantasiewelt angesiedelt sind. In einer Welt in der Menschen nach ihrem Tod als Material zu Nutzungsobjekten verwertet werden. Doch ist eine solche Form von Nachhaltigkeit mit unseren ethischen Grundsätzen zu vereinbaren? Für alle Liebhaber:innen von schrägen Geschichten, die gerne über Tabu-Brüche nachdenken.
Buchhinweise:
* Jennie Fields. Die Unteilbarkeit der Liebe. Aus dem Amerikanischen von Veronika Dünninger. 416 Seiten. Penguin, 2022.
* Heinz Helle. Wellen. 284 Seiten. Suhrkamp, 2022.
* Sayaka Murata. Zeremonie des Lebens. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 286 Seiten. Aufbau, 2022.
12/13/2022 • 23 minutes, 12 seconds
Eine junge Schweizer Autorin und der wichtigste taiwanische Autor
Im heutigen BuchZeichen treffen Welten aufeinander. Realität und Fantasie verschwimmen. Und doch thematisieren die vorgestellten Bücher brandaktuelle Themen.
Die Schweizer Autorin Anja Schmitter erzählt in ihrem Debütroman «Leoparda» eine beklemmende Geschichte: eine junge Frau verwandelt sich in ein leopardenähnliches Wesen. Simon Leuthold bringt den Roman über Ausbruch aus der Normalität, Suche nach Identität und Emanzipation an den Stammtisch.
Taiwans wichtigster Autor Wu Ming-Yi ist im deutschsprachigen Raum bislang nahezu unbekannt. Katja Schönherr findet, das sollte sich unbedingt ändern. Denn sein Roman «Der Mann mit den Facettenaugen» sei ein beeindruckender Roman über Umweltverschmutzung und Klimawandel. Es geht um eine gigantische Ansammlung aus Plastikmüll, die an die Küste Taiwans gespült wird.
In ihrem Kurzgeschichtenband «Hotel in Seattle» stellt die US-amerikanische Autorin Lily King Kinder und Jugendliche ins Scheinwerferlicht. Sie kommen oft aus Familien, die mit Trennungen oder Schicksalsschlägen konfrontiert sind. King zeigt einfühlsam und plausibel, dass schwierige Situationen nicht nur von Trotz und Trauer, sondern auch von Trost begleitet sein können. Britta Spichiger stellt das Buch als Kurztipp vor.
Buchhinweise:
* Anja Schmitter. Leoparda. 226 Seiten. Lenos, 2022.
* Wu Ming-Yi. Der Mann mit den Facettenaugen. Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling. 317 Seiten. Matthes und Seitz, 2022.
* Lily King. Hotel Seattle. Aus dem Englischen von Hanna Hesse. 252 Seiten. C.H. Beck, 2022.
12/6/2022 • 28 minutes, 57 seconds
Ein verschollener Autor und ein grässliches Verbrechen
Hoch aktuelle Bücher am Literatur-Stammtisch: Mohammed Mbougar Sarr thematisiert Fragen des Rassismus und der kulturellen Aneignung, Monika Fagerholm Gewalt gegen Frauen und Manfred Hildermeier Russlands Rolle in der Geschichte.
«Die geheimste Erinnerung der Menschen» erzählt von einem Autor, der verschollen ist. Der Roman ist ein sprachlich virtuoser Mix aus Kriminalgeschichte und Bildungsroman, der sich kritisch mit dem Erbe des Kolonialismus auseinandersetzt.
Der Senegalese Mohammed Mbougar Sarr hat für das Werk in Frankreich den renommierten Prix Goncourt 2021 erhalten. Annette König ist beeindruckt: «Dieser Roman enthält wunderschöne Passagen über die Liebe, das Leben und die Suche nach Wahrheit, die die Essenz unseres Lebens ist.»
Ein Jugendlicher aus gutem Haus vergewaltigt mit seinen Kumpels stundenlang seine Ex-Freundin. Ausgehend von diesem brutalen Racheakt erzählt die finnlandschwedische Erfolgsautorin Monika Fagerholm in ihrem preisgekrönten Roman «Wer hat Bambi getötet?», wie Muster der Gewalt eine ganze Gesellschaft versehren.
Franziska Hirsbrunner stellt diesen Roman vor. Er erzählt von Mustern der Gewalt, die tief in der Gesellschaft verankert sind - und die nicht nur Frauen, sondern auch Männer versehren.
Ein Buch zur Stunde sei das Geschichtswerk «Die rückständige Grossmacht – Russland und der Westen» des Osteuropa-Historikers Manfred Hildermeier, sagt Felix Münger. Das historische Sachbuch zeichnet die wechselhafte Beziehung Russlands zum Westen nach.
Sie war in der über tausendjährigen Geschichte Russlands sowohl von Konfrontation und Abwehr gegenüber dem Westen geprägt, aber auch von Phasen der Hinwendung. Aus historischer Perspektive besteht damit die Hoffnung, dass auch das heutige Russland wieder zu einem anderen Umgang mit dem Westen finden wird.
Buchhinweise:
* Monika Fagerholm. Wer hat Bambi getötet? Aus dem Schwedischen von Antje Rávik Strubel. 256 Seiten. Residenz-Verlag 2022
* Manfred Hildermeier. Die rückständige Grossmacht. Russland und der Westen. 271 Seiten. C.H.Beck 2022
* Mohamed Mbougar Sarr. Die geheimste Erinnerung der Menschen. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. 448 Seiten. Hanser 2022
11/29/2022 • 27 minutes, 56 seconds
Aktuelle Bücherempfehlungen - Was ist uns wirklich wichtig?
Gleich drei aktuelle Romane verhandeln diese alte Frage neu: Elisa Shua Dusapin in «Die Pachinko-Kugeln», einer Geschichte über Freundschaft, Celeste Ng im dystopischen Roman «Unsre verschwundenen Herzen» und Hanna Bervoets «Dieser Beitrag wurde entfernt» über die toxische Wirkung von Social Media.
Die Schweizer Autorin Elisa Shua Dusapin erregte mit ihrem Erstling «Winter in Sockcho» viel Aufmerksamkeit. Annette König, die sich für die Autorin begeistert, bringt deren mit Spannung erwarteten zweiten Roman an den Literaturstammtisch. Der Roman «Die Pachinko-Kugeln» erzählt die Geschichte einer jungen Schweizerin auf der Suche nach ihren ostasiatischen Wurzeln. Und vom Zauber einer ungewöhnlichen Freundschaft über die Generationen hinweg.
«Unsre verschwundenen Herzen», der neue Roman der US-amerikanischen Autorin Celeste Ng, erzählt von einer in der Zukunft lebenden Familie, deren Leben vom Rassismus des herrschenden autokratischen Regimes bestimmt wird. Die Mutter kämpft dagegen an – mit Hilfe der Literatur, und bezahlt für ihren Widerstand einen hohen Preis. Allerdings bezahlt die Familie einen hohen Preis. Britta Spichiger gefällt, wie Celeste Ng mit poetischer, zarter Sprache in ein Familienleben eintaucht und gleichzeitig grundlegende moralische Fragen stellt.
Von gefährlichen Mechanismen hinter den Kulissen der sozialen Medien geht es im Kurzroman «Dieser Beitrag wurde entfernt» der Niederländerin Hanna Bervoets. Die junge Heldin des Buchs arbeitet als Content-Moderatorin bei einem ungenannten Social-Media-Unternehmen: Sie muss Beiträge löschen, die gegen die Richtlinien verstossen. Felix Münger überzeugt am Roman, dass er subtil nachzeichne, wie sich die Wahrnehmung der Protagonistin in Bezug auf Gewalt, Rassismus oder Pornografie kontinuierlich verschiebt. Die Figur ist diesen Abgründen bei der Arbeit dauernd ausgesetzt – und droht den moralischen Kompass zu verlieren.
Buchhinweise:
* Hanna Bervoets. Dieser Beitrag wurde entfernt. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. 107 Seiten. Hanser Berlin, 2022
* Elisa Shua Dusapin. Die Pachinko-Kugeln. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. 144 Seiten. Blumenbar, 2022
* Celeste Ng. Unsre verschwundenen Herzen. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. 400 Seiten. dtv, 2022
11/22/2022 • 27 minutes, 27 seconds
Vorschau auf den Schweizer Buchpreis 2022
Die BuchZeichen-Stammtischrunde bespricht die für den Schweizer Buchpreis nominierten Bücher von Kim de l Horizon, Simon Froehling, Lioba Happel, Thomas Hürlimann und Thomas Röthlisberger.
Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022? Ist es Thomas Hürlimann, dem mit «Der Rote Diamant» eine Mischung aus Internatsroman, Klosterkrimi und ironischem Abgesang auf eine vergangene Zeit geglückt ist, oder ist es Kim de l Horizons Kindheitserinnerung «Blutbuch», die sprachlich wie inhaltlich neue Wege geht und bereits mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde? Oder sorgt die Jury für eine Überraschung, indem sie sich für Simon Froehlings «Dürrst», Thomas Röthlisbergers «Steine zählen» oder Lioba Happels «POMMFRITZ aus der Hölle» entscheidet? Die literarische Stammtischrunde stellt die fünf Bücher nochmals vor und diskutiert deren Chancen.
Kim de l Horizon. Blutbuch. 336 Seiten. Dumont, 2022.
Simon Froehling. Dürrst. 266 Seiten. Bilgerverlag, 2022.
Thomas Hürlimann. Der Rote Diamant. 320 Seiten. S. Fischer Verlag, 2022.
Lioba Happel. POMMFRITZ aus der Hölle. 136 Seiten. Edition pudelundpinscher, 2021.
Thomas Röthlisberger. Steine zählen. 176 Seiten. Bücherlese, 2022.
11/15/2022 • 24 minutes, 46 seconds
Ernaux, Jachina, Supino: Literatur aus Frankreich, Russland und der Schweiz
Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux schreibt einen berührenden Brief an ihre verstorbene Schwester. Die russische Autorin Gusel Jachina befasst sich mit den Abgründen der sowjetischen Vergangenheit. Und der Schweizer Franco Supino geht auf Spurensuche nach Neapel.
«Das andere Mädchen» von Annie Ernaux ist ein autofiktionaler Brief der Autorin an ihre verstorbene Schwester, die sie aber nie kennengelernt hat. Ernaux erfuhr als Kind nur zufällig davon, dass es diese «andere Mädchen» einst gegeben hat. In ihrem Buch zeigt die Nobelpreisträgerin einmal mehr ihr grosses Können, auf wenigen Seiten Gedanken, um Gedanken zu sezieren, findet Katja Schönherr, die das Buch an den Literaturstammtisch mitbringt.
Kasan 1923. Im Wolgagebiet herrscht Hunger. Dejew, ein ehemaliger Rotarmist, soll 500 verwahrloste Waisenkinder nach Samarkand schaffen, um sie vor dem Hungertod zu retten. Aber es fehlt an allem. Proviant, Kleidung, Medikamente. Nach «Suleika öffnet die Augen» und «Wolgakinder» legt Gusel Jachina einen dritten Roman vor, der sich mit den Abgründen früher sowjetischer Geschichte befasst. Ein Beitrag zu einer Aufarbeitung, die, konsequenter betrieben, heute vielleicht eine andere Politik in Russland zur Folge hätte als die momentane, sagt Michael Luisier, der den Roman vorstellt.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den neuen Roman «Spurlos in Neapel» von Franco Supino vor. Jahre nach dem Tod des Vaters begibt sich der Erzähler auf Spurensuche nach Neapel. Er will endlich die Stadt kennenlernen, deren Sprache er spricht. Bei seinen Erkundungen stösst er auf die geheimnisvolle Geschichte eines schwarzen Camorrista, die ihn in Bann zieht.
Buchhinweise:
Annie Ernaux. Das andere Mädchen. Aus dem Französischen von Sonja Finck. 70 Seiten. Suhrkamp, 2022.
Gusel Jachina. Wo vielleicht das Leben wartet. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. 591 Seiten. Aufbau, 2022..
Franco Supino. Spurlos in Neapel. 250 Seiten. Rotpunkt, 2022.
11/8/2022 • 27 minutes
Andreas Schäfer und Karen Duve: Der Sohn und die Kaiserin
Dieses BuchZeichen steht im Zeichen der Spurensuche: Der deutsche Autor Andreas Schäfer nähert sich seinem Vater literarisch an, die deutsche Autorin Karen Duve zeigt die einstige österreich-ungarische Kaiserin Sisi als reife Frau.
Der Schriftsteller und Journalist Andreas Schäfer nimmt Abschied von seinem Vater, der ihm immer etwas fremd war. Ein berührendes Vaterbuch, das einen Frieden entdeckt, den es vor dem Tod des Vaters nie gab. Franziska Hirsbrunner bringt «Die Schuhe meines Vaters» an den Literaturstammtisch.
In ihrem Roman «Sisi» zeigt die Autorin Karen Duve die österreichische Kaiserin in neuem Licht. Nach 20 Jahren Ehe hat sich Sisi ihre Schlupflöcher gesucht, um dem langweiligen Leben am Hof ein wenig Abenteuer entgegenzusetzen: Reisen und Reiten.
Bis heute wird Sisi für ihre wilden Reitjagden bewundert. Duve zeigt eine Kaiserin zwischen Konventionen und Selbstbestimmung. Nicola Steiner stellt den Roman vor.
Im heutigen Kurztipp empfiehlt Britta Spichiger den Roman «Verbrenn all meine Briefe». Der schwedische Autor Alex Schulman erzählt darin die erschütternde Beziehungsgeschichte seiner Grosseltern. Einfühlsam, ohne Pathos und ohne zu richten, zeigt er, wie Traumata von Generation zu Generation vererbt werden können.
Buchangaben
* Andreas Schäfer. Die Schuhe meines Vaters. 208 Seiten. DuMont, 2022.
* Karen Duve. Sisi. 406 Seiten. Galiani Berlin, 2022.
* Alex Schulman. Verbrenn all meine Briefe. 304 Seiten. dtv, 2022.
11/1/2022 • 27 minutes, 8 seconds
Nobelpreisträger & Debütantin: Abdulrazak Gurnah & Fabienne Maris
Auf dem Literaturstammtisch liegen heute zwei aussergewöhnliche Bücher. «Nachleben» des letztjährigen Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah und «Hitzewelle» der Schweizer Autorin Fabienne Maris.
Brütende Hitze. Kein Strom. Kein Wasser. Aus dem Kühlschrank weht fauliger Geruch. Doch dieser aussergewöhnlich heisse Sommer hat auch sein Gutes. Ausgelöst durch den Ausnahmezustand, taut der langweilige Eigenbrötler Jonathan so langsam auf. Mit «Hitzewelle» ist Fabienne Maris ein ganz zauberhaftes Schweizer Debüt gelungen, findet Katja Schönherr.
Rassismus und Gräueltaten ohne Ende: Im Roman «Nachleben» zeichnet der Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah ein ungeschminktes Bild der deutschen und britischen Herrschaft in Ostafrika zur Zeit von Kolonialismus und Imperialismus. Der aus Tansania stammende Autor erzählt konsequent aus der Sicht von Afrikanerinnen und Afrikaner - vom entsetzlichen Gebaren der Europäer, aber auch von Sehnsucht der Menschen nach Liebe und Geborgenheit. Für Felix Münger ist «Nachleben» sei ein eindrucksvolles Epos.
Um Geschwisterbeziehungen, psychische Krankheit und Traumata, die weitervererbt werden, geht es im neuen Roman von Rebecca Wait. Schwere Themen, mit Leichtigkeit erzählt, findet Britta Spichiger. Sie empfiehlt «Meine bessere Schwester» im heutigen Kurztipp. Unter anderem auch, weil er zeigt, wie wenig es oft braucht, um jemanden zu verletzen – oder jemandem zu zeigen, wie sehr man ihn/sie liebt.
Buchhinweise:
* Fabienne Maris. Hitzewelle.150 Seiten. Atlantis Verlag, 2022.
* Abdulrazak Gurnah: Nachleben, übersetzt von Eva Bonné. 384 Seite. Penguin, 2022.
* Rebecca Wait. Meine bessere Schwester. Übersetzt von Ann-Christin Kramer. 510 Seiten. Kein & Aber, 2022.
10/25/2022 • 28 minutes, 34 seconds
Neue Bücher von Ferdinand von Schirach, Steffen Schroeder und Brigitte Helbling
Ferdinand von Schirach erzählt in «Nachmittage» von der Vielfalt menschlicher Leidenschaften. Steffen Schroeder widmet sich in «Planck» zwei grossen Physikern und ihren Zwangslagen. Und Brigitte Helbling kommt mit ihrem Roman dem Wunsch ihrer Schwiegermutter nach, ein Buch über sie zu schreiben.
Ferdinand von Schirach verbringt seine Nachmittage in japanischen Hotelbars, französischen Gärten und italienischen Villen. An diesen und anderen Orten rund um den Globus spielen die 26 kleinen Geschichten in «Nachmittage». Mal handelt es sich bei den Erzählungen um moderne Parabeln, mal sind es gewitzte Gedankenblitze. Und jede dieser Geschichten ist wie ein Stück Schokolade am Nachmittag, findet Tim Felchlin.
Max Planck und Albert Einstein – von diesen beiden grossen Physikern erzählt der deutsche Autor Steffen Schroeder in seinem Roman «Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor». Das Buch spielt in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs, Einstein ist im US-Exil, Planck in Hitler-Deutschland.
Für Felix Münger macht das Buch die scheinbar unnahbaren grossen Geister nahbar und zeigt dabei auch deren fragwürdige Seiten: Während Einstein etwa seinen an Schizophrenie leidenden Sohn im Zürcher «Burghölzli» schmachten lässt, versucht Planck den Seinen von Hitlers Schergen zu retten.
Im heutigen Kurz-Tipp stellt Annette König die Familiensaga «Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich» von Brigitte Helbling vor. Darin schildert die Schweizer Autorin auf süffige Art und Weise wie ihre Vorfahren und auch sie selbst in Zürich die grosse Liebe finden.
Buchhinweise:
* Ferdinand von Schirach. Nachmittage. 176 Seiten. Luchterhand, 2022.
* Steffen Schroeder. Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor. 312 Seiten. Rowohlt Berlin, 2022.
* Brigitte Helbling. Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich. 224 Seiten. Rüffer & Rub, 2022.
10/18/2022 • 27 minutes, 16 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Tomi Obaro und Christian Baron
Die US-nigeranische Autorin Tomi Obaro erzählt von einer lebenslangen Frauenfreundschaft, der deutsche Autor Christian Baron von den 1970er in Deutschland. Die beiden Romane «Freundin bleibst du immer» und «Schön ist die Nacht» liegen heute auf dem Literaturstammtisch.
Den Bucheinband zu dem Roman «Freundin bleibst du immer» hält Katja Schönherr für einen der schönsten des aktuellen Herbstprogramms. Aber nicht nur das Cover hat sie überzeugt, sondern auch der Inhalt: Mit «Freundin bleibst du immer» habe die US-nigerianische Autorin Tomi Obaro einen Debütroman geschrieben, der eine besondere Frauenfreundschaft feiert.
Auch in seinem zweiten Roman «Schön ist die Nacht» widmet sich der Autor Christian Baron dem Thema Klasse. Diesmal erzählt er von seinen beiden Grossvätern, die in den siebziger Jahren in Deutschland ein hartes Leben als Arbeiter führen, um ihre Familie durchzubringen. Der eine immer darum bemüht, anständig zu bleiben, während sein bester Freund ihn immer wieder über den Tisch zieht. Ein wichtiges Buch, findet Nicola Steiner, um sich wieder einmal mit den Gesetzen unserer Klassengesellschaft zu befassen.
Im Kurztipp stellt Britta Spichiger den neuen Roman «Ein Mann mit vielen Talenten» vor. Der lustlose, vor sich hindämmernde Taft bekommt von einem Handlanger des Teufels ein verlockendes Angebot: Während eines halben Jahres darf er sich jeden Wunsch erfüllen. Aber er nutzt diese Möglichkeit ganz anders als man denkt. Dr. Faust wird zum rettenden Engel. Der US-amerikanische Schriftsteller Castle Freeman zeigt einmal mehr, dass er mit viel Humor und spitzer Feder lustvoll fabulieren kann.
Buchhinweise:
* Tomi Obaro. Freundin bleibst du immer. Übersetzt von Stefanie Ochel. Hanserblau 2022. 320 Seiten.
* Christian Baron. Schön ist die Nacht. Claassen 2022. 384 Seiten.
* Castle Freeman. Ein Mann mit vielen Talenten. Übersetzt von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser 2022. 160 Seiten.
Weitere Themen:
- Neue Krimis für Kinder und Jugendliche
10/11/2022 • 25 minutes, 52 seconds
Aktuelle Buchempfehlungen: Leïla Slimani und Lorenz Langenegger
Marokko in seiner Zerrissenheit zwischen kolonialem Erbe und autoritärer Monarchie in Leïla Slimanis Roman «Schau, wie wir tanzen» und die Umbrüche im Leben eines Mannes in Lorenz Langeneggers «Was man jetzt noch tun können» – dies die Themen im BuchZeichen.
«Schaut, wie wir tanzen» von Leïla Slimani ist der zweite Teil einer Romantrilogie, die auf Slimanis eigener Familiengeschichte beruht. Im Sommer 1968 kehrt Aïcha nach vier Jahren Medizinstudium in Strassburg nach Marokko zurück. Zu Hause trifft sie auf eine Familie, die in Auflösung begriffen ist. Doch die Begegnung mit einem jungen Wirtschaftsstudenten stellt sie vor ein Dilemma. Soll sie dieser Liebe nachgeben? Denn Aïcha träumt von einem unabhängigen Leben. Ein Lesegenuss, findet Annette König.
Manuel, die Hauptfigur in Lorenz Langeneggers Roman «Was man jetzt noch tun kann» ist einer, der am Schreibtisch sitzt und sich fragt, was das Leben noch bringt. Dann erreicht ihn die Nachricht vom plötzlichen Tod seines Vaters. Manuel muss sein Elternhaus ausräumen, eine bankrotte Firma für Schlüssel auflösen und irgendwie drei Tonnen Rohschlüssel loswerden. Darin steckt der Versuch eines Neuanfangs, den der Schweizer Autor Lorenz Langenegger warmherzig und mit Achtsamkeit für das Alltagsglück erzählt. Ein Buch über einen Durchschnittstypen, das weit über literarischem Durschnitt liegt, sagt Tim Felchlin.
Der Tipp der Woche kommt heute von Michael Luisier. Er empfiehlt Hans ten Doornkaats Mundartgedichtesammlung «Tschäderibumm – Mundartgedichte für Kinder von 45 Autor:innen».
Buchhinweise:
Leïla Slimani. Schaut, wie wir tanzen. 384 Seiten. Luchterhand, 2022.
Lorenz Langenegger. Was man jetzt noch tun kann. 272 Seiten. Jung und Jung, 2022.
Hans ten Doornkaat (Hrsg.) Tschäderibumm - Mundartgedichte für Kinder von 45 Autor:innen. Illustriert von Elena Knecht. 190 Seiten. Der gesunde Menschenversand, 2022.
10/4/2022 • 21 minutes, 46 seconds
Neue Bücher von Alain Claude Sulzer und Daniela Dröscher
Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer schreibt in seinem neuen Roman «Doppelleben» über die Brüder Goncourt. Detailreich und empathisch. Die deutsche Autorin Daniela Dröscher erzählt in ihrem neuen Roman eine persönliche Familientragödie. Bildhaft und erschütternd.
Michael Luisier kommt mit Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» in die Sendung. Darin werden die Brüder Jules und Edmond de Goncourt beschrieben, die mit ihren Romanen und einem 7000 Seiten starken Tagebuch bedeutende Spuren im Paris des 19. Jahrhunderts hinterlassen. Sulzer erzählt aber einen sehr viel persönlicheren Teil ihres Lebens: das Sterben des jüngeren Bruders an Syphilis und das Zurückbleiben des älteren. Und er erzählt das Drama der Haushälterin Rose, die schwanger wird, ein Kind bekommt, das Kind verliert und zu trinken anfängt, ohne dass die Brüder etwas merken. Erst nach ihrem Tod schreiben sie einen Roman über sie, der eine neue Literaturgattung begründet: den Naturalismus.
In «Lügen über meine Mutter» beschreibt Daniela Dröscher die desolate Ehe ihrer Eltern. Jahrelang das beherrschende Thema innerhalb der Familie: das Körpergewicht der Mutter. Er wolle eine «vorzeigbare Frau» haben, sagt der Vater wieder und wieder. Alles, was ihm misslingt, führt er auf das Gewicht seiner Gattin zurück. Ein packendes und vor allem formal sehr interessantes autofiktionales Werk, findet Katja Schönherr.
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger das Buch «Krawall und Kekse» vor. Die US-amerikanische Autorin Shirley Jackson – in erster Linie bekannt als Verfasserin von Horrorgeschichten – erzählt darin von ihrem turbulenten Familienleben. Der wiederaufgelegte Roman aus dem Jahr 1953 ist beste Unterhaltung für alle, die wissen, wie es sich anfühlt, wenn man mitten in der Nacht barfuss auf einen Legostein tritt. Jackson zeigt sich aber nicht nur als humorvolle Erzählerin, sondern auch als kritische Frau, die sich mit konventioneller Rollenverteilung auseinandersetzt.
Buchhinweise:
* Daniela Dröscher. Lügen über meine Mutter. 440 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2022.
* Alain Claude Sulzer. Doppelleben. 304 Seiten. Galiani Berlin, 2022.
* Shirley Jackson. Krawall und Kekse. Aus dem Englischen von Nicole Seifert. 256 Seiten. Arche Verlag, 2022.
9/27/2022 • 26 minutes, 49 seconds
Neue Bücher von Behzad Karim Khani und Judith Holofernes
Die Migrantengeschichte «Hund Wolf Schakal» von Behzad Karim Khani und die Autobiografie der Sängerin und Gitarristin Judith Holofernes («Wir sind Helden») sind Thema am literarischen Stammtisch im BuchZeichen auf SRF1. Dazu die Schweizerdeutsche Fassung eines Weltbestsellers aus den 50er Jahren.
Das Romandebüt «Hund Wolf Schakal» des iranischen Journalisten Behzad Karim Khani, das Nicola Steiner mit in die Sendung bringt, erzählt von einem schwierigen Jungen mit einer schwierigen Kindheit in Berlin. Nach dem Tod der Mutter während der Wirren der islamischen Revolution fliehen Saam und sein jüngerer Bruder mit dem Vater nach Deutschland. Im Immigranten-Milieu Berlin-Neukölln müssen sie eine neue Heimat finden. Dabei lernen die beiden Jugendlichen vor allem schnell die Gesetze der Strasse mit all ihrer Rohheit und Unbarmherzigkeit kennen.
Judith Holofernes ist eine der erfolgreichsten deutschen Musikerinnen der vergangenen Jahre. Als Sängerin und Gitarristin der Band «Wir sind Helden» füllte sie Anfang der Nuller Jahre ganze Stadien. Jetzt hat Holofernes eine Autobiographie geschrieben, in der sie ihren Abschied aus dem Musikbetrieb schildert. Das Buch «Die Träume anderer Leute» liest sich als die Geschichte einer Befreiung, findet Katja Schönherr, die das Buch im «BuchZeichen» vorstellt.
Der Buchtipp der Woche kommt von Michael Luisier und ist für einmal ein Mundart-Werk: «Der alt Maa und s Meer», Heinz Wegmanns zürichdeutsche Übersetzung der preisgekrönten Erzählung «The old Man and the Sea» von Ernest Hemingway.
Behzad Karim Khani: «Hund Wolf Schakal». 288 Seiten. Hanser Berlin, 2022.
Judith Holofernes: «Die Träume anderer Leute». 400 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2022.
Ernest Hemingway: «Der alt Maa und s Meer. Züritüütsch vom Heinz Wegmann mit Bilder vo de Verena Pavoni». 120 Seiten. Edition apropos, 2022.
9/20/2022 • 25 minutes, 33 seconds
Neue Bücher von Lukas Maisel, Simon Froehling, Edouard Louis
Lukas Maisel beschreibt in «Tanners Erde» wie ein Bauer vor dem Nichts steht. Simon Froehling erzählt in «Dürrst» von den Nöten einer bipolaren Störung. Und Édouard Louis reflektiert in «Anleitung ein anderer zu werden» was er hinter sich lassen muss, um als Schwuler akzeptiert zu sein.
Einem Landwirt widerfährt Abstruses: Auf seinem Land öffnen sich plötzlich gigantische mysteriöse Löcher. Sie verunmöglichen die Bewirtschaftung und stellen den Landwirt vor das Nichts. Die Löcher ziehen ihn in den Abgrund.
Davon erzählt der Schweizer Autor Lukas Maisel in seiner Novelle «Tanners Erde». Felix Münger ist beeindruckt von der kunstvollen Sprache und der vielschichtigen Metaphorik des Buchs.
Andreas Durrer alias Dürrst lebt exzessiv. Eine bipolare Störung hält ihn fest im Griff und Drogennächte und schnelle Sexbekanntschaften prägen sein Leben in der Kunst- und Schwulenszene. Doch eigentlich sucht Dürrst nichts weiter als das kleine, unspektakuläre Glück.
In seinem zweiten Roman «Dürrst» erzählt der Schweizer Autor Simon Froehling unerschrocken und unverhohlen aus dem Leben eines Suchenden – das überzeugt, findet Tim Felchlin.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König das autofiktionale Buch «Anleitung ein anderer zu werden» von Édouard Louis vor. Darin reflektiert der 30-jährige Franzose wie es ihm gelungen ist, seine Herkunft hinter sich zu lassen. Louis ist unter prekären Verhältnissen aufgewachsen und wurde als Schwuler nicht akzeptiert. Heute ist er studiert, weltberühmt, wohlhabend.
Das ist Édouard Louis bestes Buch! – findet eine begeisterte Annette König.
Buchhinweise:
* Lukas Maisel. Tanners Erde. 121 Seiten. Rowohlt, 2022.
* Simon Froehling. Dürrst. 266 Seiten. Bilger, 2022.
* Édouard Louis. Anleitung ein anderer zu werden. 272 Seiten. Aus dem Französischen von von Sonja Finck. Aufbau Verlag, 2022.
9/13/2022 • 25 minutes, 47 seconds
Neue Bücher von Thomas Hürlimann und Hertha Pauli
Mitreissend und tiefgründig: Thomas Hürlimann erzählt in seinem neuen Roman «Der rote Diamant» vom Untergang der katholischen Internatswelt. In ihrem Erinnerungsbuch «Der Riss der Zeit geht durch mein Herz» beschreibt die österreichische Autorin Hertha Pauli ihre Flucht vor den Nationalsozialisten.
Im Roman «Der rote Diamant» wird Arthur Goldau von seinen Eltern ins Innerschweizer Kloster-Internat Maria im Schnee geschickt und geht dort als «Zögling 230» auf abenteuerliche Schatzsuche nach dem berühmt-berüchtigten roten Diamanten der untergegangenen K.-u.-k.-Monarchie. Tiefgründig, böse, spannend und komisch zugleich schildert Hürlimann, der selbst Zögling im Kloster Einsiedeln war, den langsamen Untergang der katholischen Internats-Welt und den neuen Wind, der in den 1960-er Jahren durch die Welt weht. Nicola Steiner findet: Ein schillerndes Juwel der zeitgenössischen Literatur!
Eine Wiederentdeckung ist Hertha Paulis Erlebnisbericht «Der Riss der Zeit geht durch mein Herz», den Michael Luisier mit in die Sendung bringt. In diesem neu erschienenen Buch erzählt die gestandene Journalistin und Schriftstellerin von ihrer Flucht als junge Frau vor den Nazis, die sie von Wien über Zürich, Paris, Marseille und Lissabon nach New York geführt hat. Dabei begegnet sie anderen prominenten Flüchtlingen wie Joseph Roth, Ödön von Horvath und Franz und Alma Werfel, und sie überlebt wie durch ein Wunder die Hölle von Marseille, das für viele andere Nazi-Gegner zur Falle geworden ist.
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger den Erstling der türkischen Autorin Sedef Ecer vor. Der Roman «All die Frauen, die du warst» erzählt eine Mutter-Tochter-Geschichte, die geprägt ist von politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Türkei. Fesselnd und dennoch zart beschreibt Ecer eine Suche nach den eigenen Wurzeln und zeigt, wie eng persönliche Schicksale mit der Weltgeschichte verbunden sind.
Buchhinweise:
* Thomas Hürlimann. Der rote Diamant. 320 Seiten. S. Fischer, 2022.
* Hertha Pauli. Der Riss der Zeit geht durch mein Herz. Erinnerungen. 250 Seiten. Zsolnay, 2022.
* Sedef Ecer. All die Frauen, die du warst. Aus dem Türkischen von Sonja Finck. 288 Seiten. Piper, 2022.
9/6/2022 • 26 minutes, 33 seconds
Neue Bücher von Charles Lewinsky, Patrick Modiano und Lauren Groff
Charles Lewinsky ergründet in seinem Roman «Sein Sohn» die edle Herkunft eines Waisenjungen aus dem 18. Jahrhundert. Die US-amerikanische Autorin Lauren Groff erzählt die Geschichte der adligen Marie aus dem 12. Jahrhundert. Und Patrick Modiano führt uns in die Königin aller Städte: nach Paris.
Der neue Roman des Schweizer Erfolgsautors Charles Lewinsky erzählt die fesselnde Geschichte eines Waisenjungen mit Namen Louis Chabos. Dieser wird gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch als Säugling in einem Mailänder Kinderheim abgegeben. Sein Leben wird turbulent verlaufen und je länger je mehr davon bestimmt sein, seine Herkunft zu ergründen.
Felix Münger ist beeindruckt von der sprachlichen Wucht, mit der Charles Lewinsky in diesem Werk eine Suche nach der eigenen Identität behandelt, die sich mitten im historischen Milieu einer vergangenen Zeit abspielt.
Nicola Steiner empfiehlt den neuen Roman «Matrix» der US-Amerikanerin Lauren Groff. Die Handlung spielt in einem Kloster in England im 12. Jahrhundert und erzählt die Geschichte von Marie, geboren in Frankreich als aussereheliche Tochter des britischen Königs, als Jugendliche von der Königin verschickt in ein fernes Kloster irgendwo auf dem Land, dessen Äbtissin sie wird und dem sie mit ihrer Klugheit, ihrem Ehrgeiz und Willenskraft zu neuem Glanz verhilft.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den neuen Paris-Roman «Unterwegs nach Chevreuse» von Patrick Modiano vor. Eine schwerelose Lektüre, die einem durch das Paris der 1960er Jahren flanieren lässt. Auf den Spuren eines dunklen Geheimnisses!
Buchhinweise:
* Charles Lewinsky. Sein Sohn. 368 Seiten. Diogenes 2022.
* Lauren Groff. Matrix. 320 Seiten. Claassen 2022.
* Patrick Modiano. Unterwegs nach Chevreuse. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. 160 Seiten. Hanser 2022.
8/30/2022 • 27 minutes, 50 seconds
Eine tödliche Party, Waldbrände und das Olympia-Attentat 1972 - aktuelle Buchempfehlungen
Die Dänin Tine Høeg erkundet in «Tour de Chambre» schmerzhafte Erinnerungen an eine Party. «Ewig Sommer» der Deutschen Franziska Gänsler ist eine überraschende Mischung zwischen Liebes- und Klimaroman. Und «München 72» rollt die olympischen Spiele auf, die von einer Terrorattacke überschattet waren.
Asta, 33, erhält eine Einladung zur Gedenkfeier eines Studienfreundes. Es sind zehn Jahre her, dass August an einer ihrer gemeinsamen wilden Partys im Studentenwohnheim überraschend gestorben ist. Erinnerungen an August werden wach. Vergangenheit und Gegenwart mischen sich.
Annette König ist beeindruckt von Tine Høegs sprachlichem Minimalismus und ihrem pointierten, frischen, gegenwärtigen Stil. So gegenwärtig, dass man bei der Lektüre das Gefühl hat, selbst Teil der Romanhandlung zu sein.
«Ewig Sommer» – das klingt nach Ferien. Doch an Erholung ist in dieser Geschichte nicht zu denken: Im Wald neben einem einstigen Kurort wüten Brände. Ascheflocken bedecken den Fluss. Die Luft ist giftig. Kein Wunder also, dass Iris Hotel seit Monaten leer steht. Doch dann checkt eine Frau mit ihrem Kind bei ihr ein...
Franziska Gänslers Debüt «Ewig Sommer» ist ein Klimaroman und eine zarte Liebesgeschichte. Sehr spannend und beeindruckend bildhaft geschrieben, findet Katja Schönherr.
Felix Münger bringt das historische Sachbuch «München 72» in die Runde. Es erzähle packend von den Hintergründen der olympischen Spiele vor 50 Jahren. Die Grossveranstaltung bot der noch jungen Bundesrepublik Deutschland die Chance, sich als fortschrittlich und modern zu zeigen.
Dann jedoch verübten palästinensische Terroristen einen Anschlag auf die israelische Mannschaft. Er überschattet bis heute die Erinnerung an die damaligen Spiele.
Buchhinweise:
* Markus Brauckmann und Gregor Schöllgen. München 72. Ein deutscher Sommer 368 Seiten. DVA, 2022.
* Franziska Gänsler. Ewig Sommer. 205 Seiten. Kein & Aber, 2022.
* Tine Høeg. Tour de Chambre. Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich. 304 Seiten. Droschl, 2022.
8/23/2022 • 27 minutes, 29 seconds
Aktuelle Bücher: Der neue Capus und der neue Camenisch
Gleich zwei bekannte Schweizer Autoren haben Ende Juli einen neuen Roman veröffentlicht. Alex Capus und Arno Camenisch. Beide erzählen von Menschen, die neue, noch nicht ausgetretene Wege gehen. «Susanna» und «Die Welt» liegen heute auf dem Literaturstammtisch.
«Susanna» ist der Titel des neusten Romans des Schweizers Alex Capus. Darin schildert der Erfolgsautor sprachgewaltig und atmosphärisch dicht das turbulente Leben der historischen Figur Susanna Faesch.
Die Basler Portrait-Malerin wanderte im 19. Jahrhundert in die USA aus und wurde dort zwischenzeitlich eine Verbündete des Indigenen-Häuptlings Sitting Bull. Laut Felix Münger bietet der Roman gute Unterhaltung. Allerdings fehle es ihm etwas an Tiefe.
Der Schweizer Autor Arno Camenisch legt mit seinem neuen Roman «Die Welt» wiederum ein sehr persönliches Buch vor. Er erzählt von den vielen Reisen, die er im Alter zwischen 20 und 30 unternommen hat und von der Zeit der frühen Nullerjahre, die für ihn in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Umbrüche.
Für Simon Leuthold wiederholt sich der Roman zu stark, doch die Betrachtungen über Taxifahrer in Lateinamerika haben ihn beeindruckt.
Der US-amerikanische Autor Amor Towles hat eine moderne Huckleberry-Finn-Geschichte geschrieben. In seinem Roman «Lincoln Highway» erzählt er von zwei Brüdern, die 1954 auf dem ersten amerikanischen Highway unterwegs sind. Aber es ist keine Roadnovel im konventionellen Sinn mit verlassenen Tankstellen, einsamen Motels und klassischen Diners. Der Roman lebt von skurrilen Begegnungen und vielen Umwegen. Ein grosses Lesevergnügen für alle, die eine – auch formal – unkonventionelle, bunte, turbulente Geschichte mögen, findet Britta Spichiger, die den Roman als Kurztipp vorstellt.
Buchhinweise:
Alex Capus. Susanna. Hanser 2022. (Das vom Autor gelesene Hörbuch ist im Hörverlag erschienen.)
Arno Camenisch. Die Welt. Diogenes, 2022.
Amor Towles. Lincoln Highway. Hanser, 2022.
8/16/2022 • 26 minutes, 54 seconds
Wiederholung: Ein Familiengeheimnis, eine Psychose und ein Binnenland auf dem Ozean - aktuelle Buchempfehlungen
Die Dänin Tove Ditlevsen erkundet in «Gesichter» die Abgründe der Seele. Fatma Aydemirs zeigt in «Dschinns» eine Migrationsfamilie zwischen den Kulturen. Und das Sachbuch «Seefahrtsnation Schweiz» untersucht die helvetische Expansion auf den Weltmeeren. Der Literaturstammtisch mit packender Lektüre.
Die 1976 verstorbene dänische Autorin Tove Dietlevsen feierte bei uns im vergangenen Jahr ihre Wiederentdeckung - dank ihrer «Kopenhagen-Trilogie». Nun liegt auch der Roman «Gesichter» in einer deutschen Neuübersetzung vor.
Die Geschichte einer Ehefrau und Mutter, deren Realität in den Wahnsinn kippt, sei ebenso eindringlich und verstörend, findet Nicola Steiner. Ein Muss für alle Ditlevsen-Fans.
Annette König bringt «Dschinns» mit an den Literaturstammtisch, nach «Ellbogen» der zweite Roman der Deutschen Fatma Aydemir. Er spielt erneut im Milieu einer deutsch-türkischen Familie.
Der wuchtige Familienroman beeindrucke, weil er grosse Fragen aufwerfe, die uns alle angehen: Wie wichtig sind uns Familienbande? Was bleibt von einer Familie, wenn Wahrheiten nicht ausgesprochen werden? Und: Ist die Wahrheit immer zumutbar?
Das Binnenland Schweiz ist eine Seefahrtsnation. Das Land ist der viertgrösste Reedereistandort Europas. Allerdings fahren die Schiffe unter anderen Flaggen.
Das Sachbuch «Seefahrtsnation Schweiz» von Mark Pieth und Kathrin Betz folgt der langen Geschichte des Schweizer Engagements auf den Weltmeeren. Felix Münger hat das reich bebilderte Werk mit Interesse gelesen - insbesondere jene Kapitel, welche die ökologische und wirtschaftsethische Problematik der Schweizer Seefahrt unter die Lupe nehmen.
Buchhinweise:
* Fatma Aydemir. Dschinns. 367 Seiten. Hanser 2022.
Tove Ditlevsen. Gesichter. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. 160 Seiten. Aufbau Verlag, 2022.
Mark Pieth und Kathrin Betz. Seefahrtsnation Schweiz. Vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen. 286 Seiten. Elster & Salis, 2022.
Wiederholung vom 19. April 2022
8/9/2022 • 28 minutes, 29 seconds
Wiederholung: Beziehungen fürs Leben: Drei Leseempfehlungen
Der Basler Autor Martin R. Dean erzählt von der Freundschaft zweier ungleicher Männer, die israelische Schriftstellerin Hila Blum von einer komplexen Mutter-Tochter-Beziehung. Und die Britin Jane Gardam von gesellschaftlichen Schranken.
In seinem aktuellen Werk «Ein Stück Himmel» stellt der Basler Autor Martin R. Dean die Freundschaft zweier ungleicher Männer ins Zentrum. Der eine ist ein arrivierter Arzt, der andere ein freiheitsliebender Künstler, der jedoch aufgrund eines Unfalls zu Beginn des Romans sein Leben fortan im Rollstuhl verbringen muss. Felix Münger ist fasziniert vom Roman, weil er vor dem Hintergrund dieser Männerfreundschaft auf subtile Weise existenzielle Grundfragen verhandle: Was macht uns wirklich glücklich? Und: Was braucht es für ein gelingendes Leben?
Mutter-Tochter-Beziehungen sind immer komplex. Und in diesem Fall ganz besonders. Hila Blums Roman «Wie man seine Tochter liebt» handelt von einer Frau, deren Tochter nichts mehr von ihr wissen will. Eine spannende und raffiniert erzählte Geschichte, findet Katja Schönherr. Beim Lesen frage man sich die ganze Zeit: Was hat die Tochter zu diesem radikalen Schritt bewogen?
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger den allerersten Roman der heute 93-jährigen britischen Schriftstellerin Jane Gardam vor. Sie hat «Mädchen auf den Felsen» vor rund 40 Jahren geschrieben – aber alles, was Gardam bis heute auszeichnet, ist schon da: der feine Humor, die grosse Empathie für ihre Figuren, der scharfe Blick für gesellschaftliche Zustände: hier zeigt sie sie anhand der achtjährigen Margaret und ihrer Familie während eines Sommers an der englischen Küste.
Buchhinweise:
* Martin R. Dean. Ein Stück Himmel. 240 Seiten. Atlantis, 2022.
* Hila Blum. Wie man seine Tochter liebt. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. 320 Seiten. Berlin Verlag, 2022.
* Jane Gardam: Mädchen auf den Felsen. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. 224 Seiten. Hanser Berlin, 2022.
Wiederholung vom 26. April 2022
8/2/2022 • 28 minutes, 1 second
Wiederholung: Wenn der Schein trügt: Drei aktuelle Buchempfehlungen
Christoph Poschenrieder stellt in «Ein Leben lang» Fragen nach Bedeutung und Grenzen von Freundschaft. Claudia Schumacher erzählt in «Liebe ist gewaltig» von einer Vorzeigefamilie, hinter deren Fassade Gewalt herrscht. Und die Krimiautorin Petra Ivanov legt ihren ersten Liebesroman vor.
Was eigentlich ist Freundschaft? Und wo sind ihre Grenzen? Diese Fragen lotet der Münchner Autor Christoph Poschenrieder in seinem neuen Roman «Ein Leben lang» aus. Er erzählt dabei die Geschichte einer Clique von Freunden, die aus dem Lot zu geraten droht, als ein Mitglied wegen Mordes angeklagt wird. Der Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht, sei nicht zuletzt dank seiner originellen Komposition packend zu lesen, findet Felix Münger.
Juli wächst in einer Vorzeigefamilie auf, doch in der süddeutschen Kleinstadtvilla herrscht das Grauen: Ihr Vater prügelt sie und ihre Geschwister. Und Julis Mutter, die ebenfalls geschlagen wird, streitet alles ab. Das Bild von der perfekten Familie darf keinesfalls beschädigt werden. Lange habe sie kein dermassen beklemmendes Buch mehr gelesen wie «Liebe ist gewaltig» von Claudia Schumacher, sagt Katja Schönherr.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König «Wenn Träume Wurzeln schlagen» von Julia Parin vor. Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich die Schweizer Krimimeisterin Petra Ivanov. Sie hat nun ihren ersten Liebesroman geschrieben. Ein Wohlfühlbuch, das perfekt zu einem sonnigen Frühsommertag passt und dazu noch Lust zum Gärtnern macht.
Buchhinweise:
* Christoph Poschenrieder. Ein Leben lang. 304 Seiten. Diogenes 2022.
* Claudia Schumacher. Liebe ist gewaltig. 376 Seiten. dtv, 2022.
* Julia Parin. Wenn Träume Wurzeln schlagen. 384 Seiten. Heyne 2022.
Wiederholung vom 17. Mai 2022
7/26/2022 • 27 minutes, 29 seconds
Wiederholung: Aktuelle Buchempfehlungen: Zwei Romane von junge Schweizerinnen
Mit Julia Webers zweitem Roman «Die Vermengung» und Rebecca Gislers Debüt «Vom Onkel» von sind gleich zwei aktuelle Romane junger Schweizer Autorinnen Thema am Literaturstammtisch.
Julia Weber beschreibt in ihrem Roman «Die Vermengung», wie das Leben einer Autorin durcheinandergerät, als sie herausfindet, dass sie mit dem zweiten Kind schwanger ist. Sie gerät in eine regelrechte Sinnkrise und fragt sich, wie sie das das alles unter einen Hut bringen soll: Künstlerin, Partnerin, Mutter und Individuum sein. Simon Leuthold ist fasziniert von dieser persönlichen Geschichte, in der Julia Weber Autobiografisches und Erfundenes ineinander übergehen lässt, und von ihrer klaren, eindringlichen Sprache.
Ebenfalls vom Zusammenleben berichtet Rebecca Gisler in ihrem Debütroman: Eine Nichte und ein Neffe leben in einer Wohngemeinschaft mit ihrem Onkel in der Bretagne, und dieser Onkel, um den es geht, ist ein ziemlich kauziger Typ. Trotzdem fängt man beim Lesen sehr schnell an, ihn gernzuhaben, meint Katja Schönherr, die den Roman am Literaturstammtisch vorstellt.
Etwas völlig anderes ist Michael Luisiers Kurztipp, stellt er doch den österreichischen Schriftsteller und Humoristen Antonio Fian und dessen neusten Dramoletten-Band «Wurstfragen» vor.
Buchhinweise:
* Julia Weber. Die Vermengung. 352 Seiten. Limmat Verlag Zürich, 2022.
* Rebecca Gisler. Vom Onkel. 137 Seiten. Atlantis Verlag, 2022.
* Antonio Fian. Wurstfragen. Dramoletten VII. 200 Seiten. Droschl, 2022.
Wiederholung vom 12. April 2022
7/19/2022 • 21 minutes, 19 seconds
Wiederholung: Eine Liebeserklärung, eine Diplomatin und Quallen als Influencer: neue Buchempfehlungen
«Löwenherz» der österreichischen Autorin Monika Helfer, «Die Diplomatin» der Deutschen Lucy Fricke und «Quallen leben rückwärts» des Dänen Nicklas Brendborg liegen heute auf dem Literaturstammtisch.
Nach «Bagage» und «Vati» legt Monika Helfer nun ihren dritten autobiografischen Roman über ihre Vorarlberger Familie vor. In «Löwenherz» erinnert sie sich schreibend an ihren Bruder Richard. Ein inniges Porträt, eine Geschichte über Fürsorge, Schuldgefühle und Familienbande. Ein weiterer Höhepunkt aus Monika Helfers Familienchronologie, findet Michael Luisier.
In ihrem neuen Roman «Die Diplomatin» beschreibt Lucy Fricke realitätsnah das Leben einer Diplomatin, die den Glauben an ihren Job verliert. Und auch Annette König beginnt sich zu überlegen, wo die Grenzen der Diplomatie liegen. Zudem stellt der Roman die Frage, wie Karriere und Einsamkeit zueinander stehen.
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger das Sachbuch «Quallen altern rückwärts» vor. Es geht darum, wie es im Untertitel heisst, «was wir von der Natur über ein langes Leben lernen können.» Nicklas Brendborg präsentiert – leicht verständlich und humorvoll – aktuelle Forschungsergebnisse und rückt Kurioses ins Scheinwerferlicht: zum Beispiel, dass sich eine bestimmte Quallenart, wenn sie sich bedroht fühlt, ins Polypenstadium zurückentwickelt. Und dann wieder von Neuem zu wachsen beginnt. Was das für Menschen bedeuten könnte, erfährt man in diesem Buch.
Buchangaben
* Monika Helfer. Löwenherz. 192 Seiten. Hanser Verlag 2022.
* Lucy Fricke. Die Diplomatin. 256 Seiten. Claassen Verlag 2022.
* Nicklas Brendborg. Quallen altern rückwärts. Was wir von der Natur über ein langes Leben lernen können. Aus dem Dänischen von Justus Carl. 304 Seiten. Eichborn Verlag 2022.
Wiederholung vom 29. März 2022
7/12/2022 • 28 minutes, 4 seconds
Wiederholung: Nachrichten von zu wenig Bekannten
Dorothy Gallagher lotet in «Und was ich dir noch erzählen wollte» aus, was sie ihrem verstorbenen Mann noch gerne erzählt hätte. In «Schneesturm im Hochsommer» lässt sich der Altmeister Meinrad Inglin neu entdecken. Und das «Projekt Schweiz» entwirft ungewohnte Blicke auf Schweizer Persönlichkeiten.
«Und was ich dir noch erzählen wollte» sei ein schmales Buch voller Weisheit, sagt Britta Spichiger. Die US-amerikanische Autorin Dorothy Gallagher richtet sich darin an ihren 2010 verstorbenen Ehemann. Und erzählt von der gemeinsamen Zeit. Vor allem aber davon, was das Leben für sie ausmacht.
Diese Lektüre sei eine Perle – weil das Buch in einer wunderbaren Sprache viel Persönliches erzähle und trotzdem universell sei.
Meinrad Inglin gilt als einer der bedeutendsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhundert. Dabei teilt er das Schicksal vieler Grosser: dass sie zwar dem Namen nach bekannt sind, jedoch wenig gelesen werden.
Mit dem neuen Erzählband «Schneesturm im Hochsommer» dürfte sich dies ändern, ist Annette König überzeugt. Sie ist beeindruckt von Inglins Sprache, die ebenso sinnlich wie präzise sei und die Verhältnisse zwischen den Figuren klar benenne.
Eine regelrechte Schatztruhe an überraschendem Wissen über die Schweiz bietet das Sachbuch «Projekt Schweiz», das vierundvierzig Portraits von Menschen versammelt, welche die Schweiz in ganz unterschiedlicher Weise geprägt haben.
Der von Stefan Howald herausgegebene Band enthält etwa Lebensbilder von Jeremias Gotthelf, Dora Staudinger oder Mentona Moser. Verfasst haben die Texte Wissenschafter, Autorinnen und Journalistinnen. Oft mit starker persönlicher Färbung – und gerade dadurch äusserst lebendig und lesenswert, findet Felix Münger.
Buchhinweise:
Dorothy Gallagher. Und was ich dir noch erzählen wollte. Aus dem Amerikanischen von Monika Baark. 128 Seiten. Aki Verlag, 2021.
Meinrad Inglin. Schneesturm im Hochsommer. Erzählungen. Herausgegeben von Ulrich Niederer. 256 Seiten. Limmat Verlag, 2021.
Stefan Howald (Hrsg.). Projekt Schweiz. Vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft. 496 Seiten. Unionsverlag, 2021.
Wiederholung vom 11. Januar 2022
7/5/2022 • 27 minutes, 3 seconds
Sommerlektüre für (fast) jeden Geschmack
Die heutige Stammtischrunde legt verschiedene Bücher auf den Tisch: einen Dorfroman, einen Klassiker und eine sinnliche Geschichte.
Ein Dorf in Graubünden, das unter einem Berg verschüttet zu werden droht. Die Bewohner sind In Aufruhr, denn nur wenn alle gemeinsam sich entscheiden zu gehen, gibt es eine Entschädigung. Was heißt das für den Einzelnen? Was heißt das für die Gemeinschaft? Petra Hucke zeichnet sensibel und gleichermaßen dramatisch die Beziehungen der Dorfbewohner zueinander. Für Nicola Steiner ist das Buch eine ideale Sommerlektüre.
Felix Münger bringt für einmal einen seiner Lieblings-Klassiker mit: «Das Fräulein von Scuderi». Anlass ist der 200. Todestag des deutschen Autors E.T.A. Hoffmann. Das Werk handelt von einer schaurigen Mordserie im Frankreich des 17. Jahrhunderts zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwigs XIV.
Die Novelle gilt als die erste deutsche Krimi-Erzählung. Sie verfügt nicht nur über eine packende Handlung, sondern lässt sich auch als Künstler- und Gesellschaftsroman lesen. Und als Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Fragen.
Der Roman «Ein französischer Sommer» lässt einen Hauch Südfrankreich über die Seiten wehen. Als Assistentin eines berühmten Schriftstellers verbringt Leah die Sommermonate in einer Villa am Meer. Sie ordnet seine frühen Tagebücher – und entdeckt dabei einiges über sich selbst.
Ein sinnlicher, gehaltvoller Roman, den man gerne mit auf den Liegestuhl nimmt, findet Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* Petra Hucke. Vom Gehen und Bleiben. Fischer Krüger, 2022.
* E.T.A. Hoffmann. Das Fräulein von Scuderi. Eine Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. Reclam, 1986.
* Francesca Reece. Ein französischer Sommer. Übersetzt von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler. S. Fischer Verlag, 2022.
Weitere Themen:
- Reiseführer für die ganze Familie
6/28/2022 • 29 minutes, 8 seconds
Zwischen unbekannt und altgedient: Aktuelle Buchempfehlungen
Ein faszinierendes Debüt einer jungen Redakteurin und Schriftstellerin und der neuste Fall aus einer altgedienten und mehr als erfolgreichen Krimiserie. Der Literaturstammtisch bespricht «Wovon wir träumen» von Lin Hierse und «Milde Gaben» von Donna Leon.
Keine Abrechnung, keine Anklage – «Wovon wir träumen» von Lin Hierse ist eine differenzierte Liebeserklärung einer Tochter an ihre Mutter. Gleichzeitig ist der erste Roman der 32jährigen deutschen Autorin, den Franziska Hirsbrunner mit in die Sendung nimmt, auch eine Art Forschungsprojekt. In hingetupften Szenen und poetischen Bildern stellt der Roman die grossen Fragen nach unserer Identität, unseren Bindungen und unseren Wünschen ans Leben. Geschärft werden diese Fragen durch die Herkunft der Mutter, die als Chinesin in Deutschland nie so recht glücklich wurde.
In "Milde Gaben" lässt Donna Leon ihren Commissario Brunetti zum einunddreissigsten Mal ermitteln. Eine alte Jugendfreundin sucht Brunetti auf und bittet ihn um Unterstützung in einer privaten Angelegenheit. Jemand bedroht die Familie ihrer Tochter. Was Brunetti erst als Bagatelle abtut, entpuppt sich als ernste Sache. Annette König hat die Wiederbegegnung mit dem venezianischen Commissario genossen und empfiehlt das Buch als unaufgeregte Sommerlektüre.
Der Buchtipp diese Woche stammt von Gastgeber Michael Luisier. Er empfiehlt «Lenin auf Schalke» von Gregor Sander. Der ostdeutsche Autor führt seine Leserschaft dorthin, wo Deutschland am ärmsten ist. Nach Gelsenkirchen im Westen. Eine gekonnte Umkehrung dessen, was wir seit dreissig Jahren gewohnt sind.
Lin Hierse. Wovon wir träumen. 240 Seiten. Piper Verlag, 2022.
Donna Leon. Milde Gaben. 352 Seiten. Diogenes, 2022.
Gregor Sander. Lenin auf Schalke. 186 Seiten. Penguin Verlag, 2022.
6/21/2022 • 22 minutes, 18 seconds
Zwei Krimis – und ein Gedichtband von Amanda Gorman
Ein Krimi, der sich mit der Identität von Native Americans in South Dakota auseinandersetzt. Ein Krimi, der fragt, wieweit man sich als junger Mensch anpassen muss, um dazuzugehören. Und Amanda Gormans Gedichtband, dessen zentrales Thema Gleichberechtigung ist.
Virgil Wounded Horse ist der Auftragsschläger im Rosebud-Indianerreservat. Wenn die Polizei mal wieder nichts unternimmt und der Stammesrat nur seine eigenen Interessen verfolgt, sorgt Virgil mit eiserner Faust für Gerechtigkeit. Doch als Drogen ins Reservat kommen und sein Neffe fast an einer Überdosis stirbt, wird aus dem Beruf eine persönliche Angelegenheit.
«Winter Counts» von David Heska Wanbli Weiden ist ein gehaltvoller Mystery-Thriller, der das heutige Leben in einem Reservat in South Dakota eindringlich beschreibt. Er reihe sich in die Liste der Bücher von Native Americans ein, die man unbedingt lesen sollte, sagt Annette König, die das Buch auf den Literaturstammtisch legt.
Ein bisschen Krimi, ein bisschen Mystery, ein bisschen Coming of Age - der Debütroman "Draussen feiern die Leute" von Sven Pfizenmaier ist vieles. Vor allem aber ist er ein sehr ungewöhnliches Buch, wie Katja Schönherr am Literaturstammtisch erzählt.
Ein Buch über drei Jugendliche in der deutschen Provinz, die dort nicht hineinpassen, aber merken müssen, dass Drogenhandel und die Flucht in die Stadt ihr Leben auch nicht besser machen.
Der Gedichtband der US-amerikanischen Autorin Amanda Gorman ist schonungslos und eindringlich. Die junge Aktivistin appelliert an Gefühle und Gewissen ihrer Leser:innen. In «Was wir mit uns tragen – Call Us What We Carry» verarbeitet sie die letzten beiden von Corona geprägten Jahre. Rassismus bleibt eines ihrer Hauptthemen: Epidemieerfahrungen stellt sie in Zusammenhang mit rassistischen Erfahrungen und beobachtet, dass viele Leute erst jetzt gemerkt haben, was bestimmte Einschränkungen bedeuten, während andere schon jahrhundertelang damit leben müssen.
Das vielschichtige und experimentierfreudige Werk einer Autorin, die sich nicht scheut, dem eigenen Land den Spiegel vorzuhalten, findet Britta Spichiger.
Buchhinweise:
* David Heska Wanbli Weiden. Winter Counts. 464 Seiten. Übersetzt von Harriet Fricke. Polar Verlag, 2022.
* Sven Pfizenmaier. Draussen feiern die Leute. 339 Seiten. Kein & Aber, 2022.
* Amanda Gorman. Was wir mit uns tragen – Call Us What We Carry. 432 Seiten. Übersetzt von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann und Campe, 2022.
6/14/2022 • 24 minutes, 6 seconds
Kuba – Japan – Schweiz: Drei aktuelle Buchempfehlungen
Leonardo Padura beschreibt in seinem Roman «Wie Staub im Wind» 30 Jahre kubanische Geschichte. Michael Fehr überrascht in seinem Erzählband «Hotel der Zuversicht» mit phantastischen Geschichten. Und Kotaro Isaka lässt uns in seinem Thriller «Bullet Train» mit Hochgeschwindigkeit durch Japan rasen.
In seinem neuen Roman «Wie Staub im Wind» beschreibt der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura («Das Havanna Quartett») knapp 30 Jahre kubanische Geschichte. Im Zentrum seines Romans steht die Zeit zwischen dem Untergang der Sowjetunion und der damit verbundenen Wirtschafts- und Sozialkrise und Obamas Besuch in Havanna 2016. Michael Luisier stellt das Buch am Stammtisch vor und erzählt von seiner Begegnung mit dem bekannten Kubaner.
Michael Fehrs Geschichtensammlung «Hotel der Zuversicht» bringt Alltägliches und Absurdes zusammen. Immer wieder kommen phantastische Elemente vor: Traum- oder Albtraumhaftes, bei dem wir uns bald fragen, wo in diesen Geschichten eigentlich die Grenzen zwischen Schein und Sein verlaufen. Fehrs Geschichten verhandeln Momente des Menschseins, die wir alle kennen: Zwischenmenschliche Beziehungen oder unseren Umgang mit ungewohnten Situationen. Die Phantastik wirkt dabei wie ein Scheinwerfer, der das, was wir sonst für «normal» halten, in anderem Licht erscheinen lässt. Simon Leuthold bringt das Buch in die Sendung.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König den Thriller «Bullet Train» von Kotaro Isaka vor. In einem Hochgeschwindigkeitszug treffen fünf Killer aufeinander. Sie alle haben es auf einen Koffer Geld und ein Entführungsopfer abgesehen. Eine rasante Höllenfahrt im Shinkansen, die nur einer überleben wird.
Buchhinweise:
* Leonardo Padura. Wie Staub im Wind. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. 528 Seiten. Unionsverlag, 2022.
* Michael Fehr. Hotel der Zuversicht. 192 Seiten. Der gesunde Menschenversand, 2022.
* Kotaro Isaka. Bullet Train. Aus dem Japanischen von Katja Busson. 384 Seiten. Hoffmann und Campe, 2022.
6/7/2022 • 24 minutes, 10 seconds
Spezialausgabe mit Michael Fehr und Simone Lappert
In einer Spezialausgabe, aufgezeichnet an den Solothurner Literaturtagen, unterhalten sich die Schweizer Autorin Simone Lappert und der Schweizer Autor Michael Fehr mit Britta Spichiger über zwei Bücher, die sie schon lange begleiten.
Michael Fehr bringt den Jugendroman «Krabat» von Otfried Preussler mit. In diesem zeitlosen Werk geht es um einen Waisenjungen, der Lehrling eines Zaubermeisters wird und sich gegen diesen behaupten muss. Unter anderem thematisiert Preussler darin die Verlockungen der Macht.
Michael Fehr: «Das Buch ist mir sicher auch geblieben durch die ganz starken Bilder, die es verursacht. Und es ist wahnsinnig gut erzählt.»
Simone Lappert hat das Bilderbuch «Frederick» von Leo Lionni mitgebracht. Es geht um eine kleine Maus, die als Wintervorrat nicht Nüsse und Körner anlegt, sondern Farben, Sonnenstrahlen und Wörter. Damit trägt auch sie ihren Teil zum Überleben bei.
Simone Lappert: «Als ich in einer Krise steckte und mich fragte, was ich denn als Autorin der Gesellschaft nützen kann, hat mich mein Vater an dieses Bilderbuch erinnert.»
Buchangaben:
Otfried Preussler. Krabat.Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, 2021.
Leo Lionni. Frederick. Julius Beltz GmbH&Co. KG, 2003.
5/31/2022 • 32 minutes, 22 seconds
Computernerds und Fernsehköchin: Aktuelle Buchempfehlungen
Nach ihrem preisgekrönten Roman «GRM» legt Sibylle Berg den zweiten Teil ihrer Trilogie vor. «RCE - #RemoteCodeExecution» heisst der neue Roman. Zusammen mit dem Spiegelbestseller «Eine Frage der Chemie» von Bonnie Garmus ist er diese Woche Thema am Literaturstammtisch.
Sibylle Bergs neuer Roman «RCE - #RemoteCodeExecution» setzt die Geschichte von «GRM» fort. Aus den jugendlichen Computernerds von einst sind erwachsene IT-Spezialisten und Hacker geworden. Wiedervereint wollen sie dem Kapitalismus mit gut ausgeführten «Remote Code Executions» den Stecker ziehen und einen Neustart erzwingen. Annette König fand die Lektüre anregend. Aber auch erschöpfend.
«Kochen ist Chemie. Und Chemie ist Leben. Ihre Fähigkeit, alles zu ändern, beginnt hier.» Das sagt die Fernsehköchin Elizabeth Zott in Bonnie Garmus Bestseller «Eine Frage der Chemie». Zu Beginn der 1960er muss sie ihre Karriere als Chemikerin abbrechen, weil sie als Frau und alleinerziehende Mutter die Rollenerwartungen der männerdominierten Wissenschaft nicht erfüllt. So wird sie Fernsehköchin und hat unerwarteten Erfolg, weil sie den Hausfrauen der damaligen Zeit ihr Selbstbewusstsein zurückgibt. Nicola Steiner empfiehlt diesen Pageturner für eine Leseauszeit im Alltag.
Buchangaben:
Sibylle Berg. RCE - #RemoteCodeExecution. 700 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2022.
Bonnie Garmus. Eine Frage der Chemie. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. 464 Seiten. Piper Verlag, 2022.
5/24/2022 • 24 minutes, 15 seconds
Wenn der Schein trügt: Drei aktuelle Buchempfehlungen
Christoph Poschenrieder stellt in «Ein Leben lang» Fragen nach Bedeutung und Grenzen von Freundschaft. Claudia Schumacher erzählt in «Liebe ist gewaltig» von einer Vorzeigefamilie, hinter deren Fassade Gewalt herrscht. Und die Krimiautorin Petra Ivanov legt ihren ersten Liebesroman vor.
Was eigentlich ist Freundschaft? Und wo sind ihre Grenzen? Diese Fragen lotet der Münchner Autor Christoph Poschenrieder in seinem neuen Roman «Ein Leben lang» aus. Er erzählt dabei die Geschichte einer Clique von Freunden, die aus dem Lot zu geraten droht, als ein Mitglied wegen Mordes angeklagt wird. Der Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht, sei nicht zuletzt dank seiner originellen Komposition packend zu lesen, findet Felix Münger.
Juli wächst in einer Vorzeigefamilie auf, doch in der süddeutschen Kleinstadtvilla herrscht das Grauen: Ihr Vater prügelt sie und ihre Geschwister. Und Julis Mutter, die ebenfalls geschlagen wird, streitet alles ab. Das Bild von der perfekten Familie darf keinesfalls beschädigt werden. Lange habe sie kein dermassen beklemmendes Buch mehr gelesen wie «Liebe ist gewaltig» von Claudia Schumacher, sagt Katja Schönherr.
Im heutigen Kurztipp stellt Annette König «Wenn Träume Wurzeln schlagen» von Julia Parin vor. Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich die Schweizer Krimimeisterin Petra Ivanov. Sie hat nun ihren ersten Liebesroman geschrieben. Ein Wohlfühlbuch, das perfekt zu einem sonnigen Frühsommertag passt und dazu noch Lust zum Gärtnern macht.
Buchhinweise:
Christoph Poschenrieder. Ein Leben lang. 304 Seiten. Diogenes 2022.
Claudia Schumacher. Liebe ist gewaltig. 376 Seiten. dtv, 2022.
Julia Parin. Wenn Träume Wurzeln schlagen. 384 Seiten. Heyne 2022.
5/17/2022 • 27 minutes, 30 seconds
Experimentelle Romane: gut lesbar und fesselnd
Die Irin Sarah Crossan erzählt von einer Frau, die um ihren Geliebten nicht trauern darf. Der US-Amerikaner Percival Everett von einem Mann, der mit dem drohenden Verlust seiner Tochter umgehen muss. Beiden gelingt es, eine aufwühlende Geschichte ohne Klischees zu erzählen: in experimenteller Form.
«Verheizte Herzen» der irischen Autorin Sarah Crossan ist ein Roman über verschluckte Trauer. Es geht um Ana, deren Geliebter vollkommen unerwartet verstirbt. Und da niemand von ihrer Affäre wusste, kann Ana ihren Kummer nun auch mit niemandem teilen.
Das Besondere an «Verheizte Herzen»: Der Roman ist durchgängig in Versform geschrieben. Dies sorgt für einen peitschenden, atemlosen Rhythmus. Ein Leserausch, findet Katja Schönherr, sobald man sich einmal auf dieses ungewöhnliche Genre eingelassen hat.
Zach Wells ist «Geologe – Schrägstrich – Paläobiologe» und Universitätsprofessor. Und ein zynischer Sonderling. Er führt eine mässig gute Ehe und verehrt seine Tochter abgöttisch. Doch eines Tages stellt sich heraus, dass Sarah, seine Tochter, unter dem sogenannten «Batten-Syndrom» leidet – eine unheilbare und tödliche Krankheit, die zu rasanter Demenz führt. Die Diagnose wirft Zachs Leben komplett aus der Bahn. Nicola Steiner legt den Roman auf den Literaturstammtisch.
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger «New York und der Rest der Welt» vor. Geschrieben hat das Buch Fran Lebowitz – eine Kultfigur in den USA. Von Andy Warhol in den 1970er Jahren entdeckt und dank der Netflix-Serie «Pretend Its a City» nun weltweit bekannt. Lebowitz schreibt mit scharfer Beobachtungsgabe, bitterbösem Humor und ohne Berührungsängste über viele Facetten des Lebens. Alles, was unsere Konsumgesellschaft heute beschäftigt – Selbstoptimierung, Köperkult, Eitelkeit und Angeberei – beobachtet sie in «ihrer» Stadt New York schon lange.
Buchhinweise:
* Sarah Crossan. Verheizte Herzen. Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch. 260 Seiten. Kiepenheuer und Witsch, 2022.
* Percival Everett. Erschütterung. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. 290 Seiten. Hanser Verlag, 2022.
* Fran Lebowitz. New York und der Rest der Welt. Aus dem Englischen von Sabine Hedinger und Willi Winkler. 350 Seiten. Rowohlt Berlin, 2022.
5/10/2022 • 28 minutes, 27 seconds
Schweizer Debüt und «Zeitzuflucht» von Georgi Gospodinov: Aktuelle Buchempfehlungen
«Die Dinge beim Namen» der jungen Schweizerin Rebekka Salm und «Zeitzuflucht» des bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov – dies die beiden Buchneuerscheinungen diese Woche am Literaturstammtisch im «BuchZeichen».
Der Roman «Die Dinge beim Namen» der jungen Schweizer Autorin Rebekka Salm setzt sich aus zwölf Geschichten zusammen, die gekonnt ineinander verwoben sind. Sie beleuchten aus verschiedenen Perspektiven ein folgenschweres Ereignis, das noch Jahrzehnte später seinen Schatten auf ein Dorf wirft. Annette König, die das Buch für die Sendung ausgewählt hat, findet bemerkenswert, wie Rebekka Salm die Dinge beim Namen nennt.
In seinem neuen Roman «Zeitzuflucht», das Nicola Steiner mit in die Sendung bringt, erkundet der bulgarische Autor Georgi Gospodinov die menschliche Sehnsucht nach Vergangenheit. Und das auf höchst originelle Weise. Ausgangspunkt des Romans ist nämlich eine Klink für Demenzkranke in Zürich, deren Zimmer in verschiedenen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts eingerichtet sind. Als dann aber plötzlich ganze Städte und Staaten auf die Idee aufspringen und ihren Bürgerinnen und Bürger ebenfalls die schöne vertraute Vergangenheit anbieten, nimmt die Sache groteske Züge an.
Der Tipp der Woche stammt von Michael Luisier. Zum 80. Geburtstag des Kabarettisten Gerhard Polt am 7. Mai wirft er einen kurzen Blick auf dessen jüngste Publikation «Dr. Arnulf Schmitz-Zceiczyk».
Buchhinweise:
* Georgi Gospodinov. Zeitzuflucht. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. 342 Seiten. Aufbau Verlag, 2022.
* Rebekka Salm. Die Dinge beim Namen. 182 Seiten. Knapp Verlag, 2022.
* Gerhard Polt. Dr. Arnulf Schmitz-Zceiczyk. 144 Seiten. Kein und Aber, 2022.
5/3/2022 • 22 minutes, 43 seconds
Beziehungen fürs Leben: Drei Leseempfehlungen
Der Basler Autor Martin R. Dean erzählt von der Freundschaft zweier ungleicher Männer, die israelische Schriftstellerin Hila Blum von einer komplexen Mutter-Tochter-Beziehung. Und die Britin Jane Gardam von gesellschaftlichen Schranken.
In seinem aktuellen Werk «Ein Stück Himmel» stellt der Basler Autor Martin R. Dean die Freundschaft zweier ungleicher Männer ins Zentrum. Der eine ist ein arrivierter Arzt, der andere ein freiheitsliebender Künstler, der jedoch aufgrund eines Unfalls zu Beginn des Romans sein Leben fortan im Rollstuhl verbringen muss. Felix Münger ist fasziniert vom Roman, weil er vor dem Hintergrund dieser Männerfreundschaft auf subtile Weise existenzielle Grundfragen verhandle: Was macht uns wirklich glücklich? Und: Was braucht es für ein gelingendes Leben?
Mutter-Tochter-Beziehungen sind immer komplex. Und in diesem Fall ganz besonders. Hila Blums Roman «Wie man seine Tochter liebt» handelt von einer Frau, deren Tochter nichts mehr von ihr wissen will. Eine spannende und raffiniert erzählte Geschichte, findet Katja Schönherr. Beim Lesen frage man sich die ganze Zeit: Was hat die Tochter zu diesem radikalen Schritt bewogen?
Im heutigen Kurztipp stellt Britta Spichiger den allerersten Roman der heute 93-jährigen britischen Schriftstellerin Jane Gardam vor. Sie hat «Mädchen auf den Felsen» vor rund 40 Jahren geschrieben – aber alles, was Gardam bis heute auszeichnet, ist schon da: der feine Humor, die grosse Empathie für ihre Figuren, der scharfe Blick für gesellschaftliche Zustände: hier zeigt sie sie anhand der achtjährigen Margaret und ihrer Familie während eines Sommers an der englischen Küste.
Buchhinweise:
Martin R. Dean. Ein Stück Himmel. 240 Seiten. Atlantis, 2022.
Hila Blum. Wie man seine Tochter liebt. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. 320 Seiten. Berlin Verlag, 2022.
Jane Gardam: Mädchen auf den Felsen. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. 224 Seiten. Hanser Berlin, 2022.