«52 beste Bücher» widmet sich Woche für Woche einer herausragenden literarischen Neuerscheinung. Die Sendung richtet sich an alle Liebhaberinnen von Literatur und literarischer Debatte und an jene, die neugierig sind auf Begegnungen mit Autoren und Literaturkritikerinnen. Leitung: Esther Schneider Redaktion: Franziska Hirsbrunner, Annette König, Michael Luisier, Felix Münger, Rainer Schaper, Britta Spichiger, Luzia Stettler, Nicola Steiner, Susanne Sturzenegger, Julian Schütt Redaktionsassistenz: Anna von Tobel, Kira Capraro Kontakt: [email protected]
52 Beste Bücher kompakt: Pedro Lenz und Dorothee Elmiger
Während der Ferienzeit bis zum 8. August präsentieren wir Highlights der Sendung «52 Beste Bücher». In kompakter Form gibt es Auszüge zu hören aus den Gesprächen mit Autorinnen und Autoren über wichtige Bücher der vergangenen Monate. Unsere heutigen Gäste: Pedro Lenz und Dorothee Elmiger.
Weitere Themen:
- 52 Beste Bücher kompakt: Mit Pedro Lenz
- 52 Beste Bücher kompakt: Mit Dorothee Elmiger
7/11/2021 • 31 minutes, 29 seconds
«Blues in C. Journal eines Jahres» von Alberto Nessi
Im Frühling vor einem Jahr stand alles still. Die Schweiz befand sich im Corona-Ausnahmezustand. Alberto Nessi hat in dieser Zeit Tagebuch geschrieben. Er sinniert drin über die Natur, über unsere Gesellschaft und den Tod. Ein Fazit: Nur die Literatur und die Fantasie können uns retten.
Alberto Nessi beginnt sein Journal mit einem Traum. Eine Ärztin eröffnet ihm, dass er sehr schwer an Corona erkrankt ist. Das war ganz zu Beginn der Pandemie, als ihn die Bilder aus Norditalien erschütterten. Die überfüllten Spitäler, die sterbenden Menschen. Alberto Nessi schreibt über sein Ängste aber auch über das, was die Pandemie an Positivem bringt. Dazu gehören Momente der Stille, die Spaziergänge, die Zeit, die er in seinem Garten im Tessinerdorf Bruzella verbringt. Er macht sich in diese ersten vier Monate der Pandemie auch Gedanken über unsere Gesellschaft. Fragt sich, ob wir nach der Pandemie einfach weitermachen wie bisher oder ob ein Umdenken stattgefunden hat. Werden die Menschen der Umwelt mehr Sorge tragen und solidarischer miteinander umgehen?
Esther Schneider unterhält sich mit Alberto Nessi über seine Fragen, seine Hoffnungen und über das Tagebuchschreiben.
Buchhinweis:
Alberto Nessi. Blues in C. Journal eines Jahres. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Limmat Verlag, 2021.
Weitere Themen:
- Interview mit Alberto Nessi im Originalton (Italienisch)
7/4/2021 • 35 minutes, 16 seconds
«Tiefenlager» von Annette Hug
Ein aussergewöhnlicher Roman: Die Autorin Annette Hug behandelt in «Tiefenlager» Zukunftsprobleme wie die Endlagerung des Atommülls, die sonst in der Belletristik kaum vorkommen.
In herkömmlichen Romanen geht es meist um die ewiggleichen Themen wie Liebe und Kindheit, Erinnerung und Alter. Annette Hug stellt sich in ihrem neuen Roman «Tiefenlager» einem drängenden Zukunftsproblem, ohne aber ins Science-Fiction- oder Fantasy-Genre abzudriften: Es geht um die Endlagerung des Atommülls und wie man das Wissen um die Gefahren dieses hochaktiven Abfalls auch in kommenden Generationen sicherstellt.
Drei Frauen und zwei Männer aus verschiedenen Welten tun sich zusammen: eine Krankenpflegerin aus Manila, ein Nuklearphysiker aus der ehemaligen Sowjetunion, ein ausgestiegener AKW-Angestellter, eine Linguistin und eine Finanzspezialistin. Um das gravierende Zukunftsproblem des Atommülls anzupacken, wählen sie einen vermeintlich mittelalterlichen Weg: Sie gründen einen Orden, der es ihnen erlaubt, ruhig und unabhängig arbeiten zu können. Bevor aber die Zukunft sicherer gestaltet werden kann, muss das Zwischenmenschliche innerhalb des bunt zusammengestellten Ordens gelöst werden.
Annette Hug, die selber in Manila studiert hat und sich in fernöstlichen Metropolen wie Hongkong oder Shanghai auskennt, hat einen welthaltigen, klugen Roman geschrieben. Sie spielt durch, wie unsere Zukunft zwischen den Polen Individuum und Kollektiv oder Universalismus und Relativismus aussehen könnte.
Buchhinweis:
Annette Hug. Tiefenlager. Verlag Das Wunderhorn, 2021.
6/27/2021 • 41 minutes, 12 seconds
«Daheim» von Judith Hermann
In ihrem neuen Roman lotet Judith Hermann – am Beispiel ihrer Protagonistin - den Begriff «Daheim» aus: Mit fast 50 wagt diese einen Neuanfang an der Küste. Luzia Stettler diskutiert mit der Autorin über die Sehnsucht nach Geborgenheit und den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.
«Daheim» ist ein nachdenkliches, kluges und mitunter auch witziges Buch, das vor allem vom Zauber einzelner Szenen lebt. Geschickt verbindet Judith Hermann die lange Form des Romans mit poetischen Miniaturen. Einmal mehr überzeugt sie durch ihre karge, kunstvolle Sprache; diesen typischen lakonisch-melancholischen Sound, der – wie ein Kritiker einmal schrieb – «tatsächlich süchtig machen kann».
Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin, eine Frau im mittleren Alter, die sich nach einer gescheiterten Ehe aus der Stadt verabschiedet und sich in ein kleines Dorf an der Nordsee zurückzieht. Dort jobbt sie im Restaurant ihres Bruders, und versucht sich – als verwaiste Mutter, denn Tochter Ann ist gerade ausgeflogen, – im Leben neu einzurichten, noch unschlüssig, wie sie die Weichen nun stellen soll.
Die Protagonistin ist im Grunde genommen eine Suchende – wie viele Leute in ihrem Umfeld auch: sie forscht nach Wurzeln, die sie nie gehabt hat. Aber auch nach einem Ort, wo sie – wie Nachbarin Mimi – «gut zufrieden» sein könnte. Und die Stärke dieses Buches besteht genau darin, dass uns Judith Hermann klar macht, wie unterschiedlich Menschen dieses «Daheim» für sich definieren, und wie volatil so ein Begriff im Laufe einer Lebensspanne auch sein kann.
Buchhinweis:
Judith Hermann. Daheim. S. Fischer Verlag, 2021.
6/20/2021 • 46 minutes, 27 seconds
«Sind Sie das?» von Charles Lewinsky
«Sind Sie das?» Diese Frage hört Charles Lewinsky oft, wenn es um seine Figuren geht. Zum 75. Geburtstag schreibt er nun ein Buch, in dem er der Frage nachgeht, wo in seinem Werk er selbst vorkommt. Ein Gespräch über das Leben und das Schreiben und darüber, was das eine mit dem anderen zu tun hat.
Der Anlass für dieses Buch liegt Jahre zurück. An einer Lesung des Romans «Johannistag», in dem es um einen Lehrer geht, der eine intime Beziehung zu einer Schülerin hat, wird Charles Lewinsky gefragt, ob dieser pädophile Lehrer er sei. Charles Lewinsky selbst. Wenig überraschend ist die Lesung rasch vorbei. Aber der Gedanke, respektive die Neugier, wo in seinem Werk Charles Lewinsky tatsächlich vorkommt, lässt ihn seither nicht mehr los. Also liest Charles Lewinsky seine zwölf Romane nochmals durch und sucht die Stellen heraus, die von persönlichen Erlebnissen inspiriert sind. Daraus verfasst er einen sehr persönlichen Text, der ursprünglich nur für seine drei Enkel gedacht war. Damit diese später mal lesen können, wer ihr Grossvater wirklich war. Doch glücklicherweise gefällt der Text auch Lewinskys Lektorin so gut, dass er jetzt als Buch erscheint und allen zugänglich wird.
Charles Lewinsky. Sind Sie das? Diogenes, 2021.
6/13/2021 • 43 minutes, 55 seconds
«Junischnee» von Ljuba Arnautovic
In «Junischnee» erzählt Ljuba Arnautovic die verstörende Geschichte ihres Vaters, in die sich die Erfahrung von Flucht, Weltkrieg und Gulag einschrieben. Im Gespräch mit Felix Münger erzählt die österreichische Autorin von ihrem «Seiltanz», die Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden.
Die Hauptfigur des Romans, Karl Arnautovic, ist der Sohn eines jüdischen Kommunisten in Wien. Die Mutter schickt Karl aus Furcht vor den Nazis 1934 ins sowjetische Exil.
Die Aufnahme des Kinds aus einer Familie von ausländischen Genossen ist zunächst freundlich. Karl lebt in einem Moskauer Kinderheim und wächst behütet auf.
Als Hitler 1941 dies Sowjetunion überfällt, gilt Karl – wie andere Sprösslinge aus «Deutschland» - plötzlich als Feind. Der Teenager landete im Gulag. Dass er überlebt, grenzt an ein Wunder.
Im Arbeitslager lernt er seine künftige Frau kennen, die spätere Mutter von Ljuba Arnautovic, die mit diesem Roman ihren Eltern ein eindrucksvolles Denkmal setzt. Es ergreift durch die fein austarierte Mischung von Nähe und Distanz gegenüber den Figuren, die ihre nächsten Verwandten sind.
Das Buch vermeidet jede Verklärung, überzeugt durch seine verdichtete Sprache und macht den Lebensweg von Menschen sichtbar, die zu Spielbällen eines Katastrophenjahrhunderts wurden – und damit stellvertretend stehen für die Erfahrung von Millionen.
Buchhinweis:
Ljuba Arnautovic. Junischnee. Zsolnay, 2021.
6/6/2021 • 41 minutes, 28 seconds
«Besetzte Gebiete» von Arnon Grünberg
Mit Arnon Grünbergs «Besetzte Gebiete» erzählt erstmals ein Roman aus dem Innenleben einer ultrareligiösen Siedlung in den besetzten Gebieten im Westjordanland.
Kadoke, ein durchaus liberaler Psychiater aus Amsterdam, den wir schon aus Arnon Grünbergs Roman «Muttermale» (2016) kennen, wird Opfer eines Metoo-Skandals: Er soll eine junge Patientin missbraucht haben. Zumindest behauptet dies ein Schriftsteller in einem Buch, nachdem er die Patientin Michette kennengelernt hat. Die zuständige Disziplinarkommission entzieht dem Psychiater daraufhin die Erlaubnis, seinen Beruf weiter auszuüben.
Kadoke flieht in der Not zu einer Geliebten namens Anat, die mit ihrer Mutter in einer religiösen Siedlung in den besetzten Gebieten im Westjordanland lebt. Während er in Amsterdam als jüdischer Schänder angeprangert wird, gilt er in der Siedlung als Wunder, weil er Anat endlich zu Kindern verhelfen soll. Doch in der ultrareligiösen Siedlung wird Kadoke erneut zum Paria, nachdem er eine Affäre mit einem Palästinenser begonnen hat.
Auch in seinem brisanten neuen Roman «Besetzte Gebiete» tanzt der holländische Starautor Arnon Grünberg virtuos auf der rasierklingenscharfen Grenze zwischen Tragik und Komik.
Buchhinweis:
Arnon Grünberg. Besetzte Gebiete. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2021.
5/30/2021 • 47 minutes, 59 seconds
«Die Verlassenen» von Matthias Jügler
Verrat, Verlust und eine tiefe Verlorenheit – in seinem Roman «Die Verlassenen» erzählt der 1984 in Halle geborene Matthias Jügler behutsam und eigensinnig von den Folgen und Spätfolgen der Machenschaften der DDR-Staatsicherheit.
Die DDR ist Geschichte, als ein junger Mann und werdender Vater unter einem Vorwand Hals über Kopf nach Norwegen aufbricht. Zufällig war er auf einen Brief gestossen, der sein eh schon ungewisses Leben vollends bedroht. Als kleiner Junge verlor er seine Mutter, ein Herzinfarkt angeblich. Als er dreizehn war, verschwand sein Vater spurlos. Antworten auf seine Fragen bekam er nie. Nun wäre vielleicht Gelegenheit, sich am Mann zu rächen, der als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit die Familie zerstört hatte.
Ausgehend von einem realen Fall zeigt der Roman, wie traumatische Ereignisse über Generationen hinweg weiterwirken. Und wie diese Ereignisse Fragen stellen, die nicht nur die Opfer etwas angehen.
Mit Matthias Jügler spricht Franziska Hirsbrunner.
Buchhinweis:
Matthias Jügler. Die Verlassenen. Penguin Verlag, 2021.
5/23/2021 • 42 minutes, 1 second
«Capricho – ein Sommer in meinem Garten» von Beat Sterchi
Fast 40 Jahre nach seinem Kultbuch «Blösch» publiziert Beat Sterchi sein 2. Werk bei Diogenes: «Capricho – ein Sommer in meinem Garten» ist eine zauberhafte Liebeserklärung an seinen «huerto» und an eine bedrohte Welt in der spanischen Provinz. Der Schweizer Autor ist zu Gast bei Luzia Stettler.
Wer einmal «Blösch» gelesen hat, wird Ambrosio nie wieder vergessen: den spanischen Gastarbeiter, der als Melker auf einen Schweizer Bauernhof kommt und in Blösch, der stolzen Leitkuh im Stall, eine Verbündete findet. Jahre später, nachdem der Ausländer einen Job im Schlachthof übernommen hat, begegnet er seiner vierbeinigen Freundin erneut: bis auf die Knochen abgemagert wird sie auf die Schlachtbank gezerrt.
Anders die Kulisse in «Capricho» – und doch gibt es eine innere Verbindung: Jetzt ist es der Schweizer, der in Spanien zum Ausländer wird. Der Ich-Erzähler verbringt schon seit Jahrzehnten den Sommer in einem kleinen Haus – unweit der Burgstadt Morella. Eigentlich will er die Geschichte des Dorfes aufschreiben, aber die Muse lässt ihn sitzen. Also kümmert er sich intensiv um seinen Garten, lässt sich auf Plaudereien mit Passanten ein, schätzt die guten Pflanz-Tipps der Einheimischen.
Es ist unschwer, im Ich-Erzähler den Autor wiederzuerkennen: Beat Sterchi hatte sich – nach seinem enormen Erfolg mit «Blösch» – selber jahrelang in die spanische Provinz zurückgezogen. Noch heute ist das Haus sein Herzensort. Und er gibt auch ehrlich zu, dass er erst durch die vermeintliche Ablenkung des «huerto» den roten Faden für sein Buch gefunden habe.
Im Gespräch mit Luzia Stettler erzählt er vom archaischen Alltag, vom Geschichten-Finden und vom Charme einer mediterranen Lebensform.
Buchhinweis:
Beat Sterchi. Capricho. Diogenes, 2021.
5/16/2021 • 38 minutes, 53 seconds
«Die Kinder hören Pink Floyd» von Alexander Gorkow
In seinem Roman «Die Kinder hören Pink Floyd» beschreibt Alexander Gorkow seine Kindheit in den 70er Jahren. Im Gespräch mit Michael Luisier spricht er über das Leben in einer westdeutschen Vorstadt, die Ängste eines phantasiebegabten Kindes und über die Band, die ihn geprägt hat: Pink Floyd.
Alexander Gorkow ist Journalist und Schriftsteller. Und er ist einer der wichtigsten Pink Floyd-Kenner Deutschlands. Mehrere Male hat er die einzelnen Mitglieder der Band interviewt, zuletzt den mittlerweile stark umstrittenen Roger Waters, der sich schon seit einiger Zeit einem hartnäckigen Antisemitismusvorwurf ausgesetzt sieht. In «Die Kinder hören Pink Floyd» verarbeitet Alexander Gorkow einerseits seine eigene, von Ängsten und Schreckensvorstellungen geprägte Kindheit in einer westdeutschen Vorstadt während der 70er Jahre und das Aufwachsen mit einer äusserst lebenshungrigen aber herzkranken älteren Schwester, andererseits seine wechselvolle Beziehung zu einer Band, die für ihn lebensprägend geworden ist.
Buchhinweis:
Alexander Gorkow. Die Kinder hören Pink Floyd. Kiepenheuer & Witsch, 2021.
5/9/2021 • 44 minutes, 5 seconds
«Der Wod» von Silvia Tschui
Ein Familienroman mit einem Kriegsgott schon im Titel: In «Der Wod» entzaubert Silvia Tschui das Familienglück. Es endet in Missbrauch und anderen Desastern.
Der Familienstammbaum ist der einzige Ruhepol im Buch. Darauf ist alles schön friedlich geordnet und an seinem richtigen Ort. Sonst aber beherrschen Krieg und Missbrauch die Familie, die Silvia Tschui in ihrem neuen Roman «Der Wod» schildert. Die einzelnen Mitglieder tun einander Schreckliches an, verlieren und verfolgen sich, suchen Ersatzfamilien in einer Freimaurerloge, in der Kirche oder bei den Hells Angels.
Kaum eine Schweizer Autorin erzählt rasanter als Silvia Tschui in «Der Wod», angetrieben von dem germanischen Kriegsgott, den sie als Titelheld gewählt hat. Wir tauchen tief ins 20. Jahrhundert ein, in die Epoche des Nationalsozialismus und der hektischen Nachkriegsjahre, springen zwischen Deutschland und der Schweiz hin und her. Silvia Tschuis Figuren scheitern oder machen Karriere in der Druckerei- oder Uhrenbranche oder im Geheimdienst. Und als es einmal zu einer Familienfeier in herrschaftlicher Umgebung am Zürichsee kommt, endet sie blutig und mit Herzinfarkt.
Buchhinweis:
Silvia Tschui. Der Wod. Rowohlt, 2021.
5/2/2021 • 41 minutes, 49 seconds
«Levys Testament» von Ulrike Edschmid
«Levys Testament» ist eine Geschichte aus dem Leben der Autorin, deren Anfang im linksradikalen Milieu der 70er und Schluss in der Preisgabe eines Familiengeheimnisses liegt. Ein Gespräch mit Ulrike Edschmid über London, das Selbstverständnis des Aussenseiters und über Charlie Watts in der U-Bahn.
Als junge Frau besucht die Ich-Erzählerin ein politisches Filmfestival in London. So entflieht sie dem damaligen Westberlin, wo sie wegen des plötzlichen Untertauchens ihres früheren Lebenspartners (beschrieben im Erfolgsroman «Das Verschwinden des Philip S.») unter polizeilicher Beobachtung steht. In London gerät sie in die militante Hausbesetzerszene im East End und lernt ihren langjährigen Freund und Partner kennen, den sie im Roman immer nur «den Engländer» nennt. Vierzig Jahre später – das Paar geht längst getrennte Wege – klingelt «beim Engländer» das Telefon. Eine ihm bisher unbekannte Cousine seines Vaters meldet sich und führt ihn in ein Familiengeheimnis ein, das ihm seine eigene Herkunft ganz neu und ganz anders erklärt als bisher bekannt.
Ulrike Edschmid hat jetzt diese Geschichte aufgeschrieben und zu einem gekonnt poetischen Roman gemacht, wie man es von ihren früheren Werken – ebenfalls zu tatsächlich erlebten Begebenheiten – in bester Erinnerung hat. Im Gespräch mit Michael Luisier erzählt die Schriftstellerin von der Entstehungsweise des Textes und dem Verarbeiten von Erlebten zu Literatur, vom «Engländer» und seinem Umgang mit einer ganz anderen und neuen Identität, von gemeinsamen Reisen und einer grossen Theaterkarriere und vom Zusammenleben mit einem leidenschaftlichen Tottenham Hotspur-Fan auch dann, wenn man sich gar nicht für Fussball interessiert.
Buchhinweis:
Ulrike Edschmid. Levys Testament. Suhrkamp Verlag, 2021.
4/25/2021 • 43 minutes, 28 seconds
«Tage des Vergessens» von Yvonne Zitzmann
Sieben Probanden nehmen in «Tage des Vergessens» an einer Studie teil: sie alle wollen eine Erfahrung in ihrem Kopf löschen. Die Autorin bezieht sich dabei auf Experimente in der DDR. Luzia Stettler spricht mit Yvonne Zitzmann über Menschenversuche und den Wert von Erinnerungen.
Eine aussereheliche Affäre, die Schuldgefühle eines KZ-Überlebenden, der Verlust der Heimat, das Trauma eines frühen Missbrauchs: In fast jedem Leben gibt es schlimme Erfahrungen, mit denen man sich nicht länger belasten möchte. Wie verheissungsvoll also das Versprechen von Pillen, die im Gedächtnis gezielt gewisse Erinnerungen ausradieren können!
Im Roman «Tage des Vergessens» begleiten wir sieben ausgewählte Personen, die sich freiwillig für eine Studie zur Verfügung stellen: Eine Woche lang müssen sie täglich – unter Aufsicht von Forschungsleiter Marian Wechsler – eine Pille einnehmen. Doch bereits nach wenigen Tagen läuft das Experiment völlig aus dem Ruder.
Dieser packende und sprachlich überzeugende Debütroman basiert auf Forschungen, die in der DDR-Zeit von westlichen Pharmakonzernen durchgeführt wurden. Yvonne Zitzmann geht der Frage nach: was ist wissenschaftlich und medizinisch noch verantwortbar? Und ist ein Leben, in dem die Erinnerungen an ganze Jahrzehnte plötzlich fehlen, wirklich noch sinnstiftend?
Buchhinweis:
Yvonne Zitzmann. Tage des Vergessens. Müry Salzmann Verlag, 2021.
4/18/2021 • 39 minutes, 27 seconds
«Magdalenas Sünde» von Romana Ganzoni
Vor den Augen ihrer Verehrer zwickt und quetscht die Verkäuferin Magdalena die Törtchen im Schaufenster der Bäckerei. Ein Sado-Maso-Spiel mit Süssigkeiten? Im Roman «Magdalenas Sünde» der Schweizer Autorin Romana Ganzoni geht es um Begehren, um sexuelle Dominanz und um das Sterben.
Magdalena hat soeben gierig ihren achten Berliner – das zuckrige, mit Konfitüre gefüllte Gebäck - verschlungen. Magdalena lebt in Zürich. Ihr Name ist symbolbeladen. Wohl nicht zufällig. Magdalena ist eine Ex-Prostituierte. Jetzt arbeitet sie als Verkäuferin in einer Bäckerei und sie steckt in Schwierigkeiten. Sie leider unter der sadomasochistischen Beziehung zu einem älteren und narzisstisch veranlagten Schriftsteller. Zudem liegt ihr Vater im Sterben. Soweit die Ausganglage. Der zweite Roman der Engadiner Autorin Romana Ganzoni ist einerseits eine beklemmende Geschichte über sexuelle Obsessionen, über Scham und Schuld. Andererseits erzählt er von Freundschaft und Fürsorge. Es sind Bilder, Stimmungen und Emotionen, die den Ton in diesem kurzen Roman angeben. Ein Roman, in dem vieles im Ungewissen bleibt, wo die Fantasie die Realität überblendet. Was Romana Ganzoni zu dieser Magdalena-Figur inspiriert hat, erzählt sie in der Sendung «52 Beste Bücher» auf Radio SRF 2 Kultur.
Buchhinweis:
Romana Ganzoni. Magdalenas Sünde. Telegramme Verlag, 2021.
4/11/2021 • 49 minutes, 45 seconds
«Vom Aufstehen» von Helga Schubert
Weltkrieg, deutsche Teilung, Stasi, Wende: In «Vom Aufstehen» macht die 81-jährige Helga Schubert ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte erfahrbar. Die deutsche Autorin erzählt von quälenden Prägungen und seelischen Verletzungen – und zeigt, dass man trotz allem inneren Frieden finden kann.
Ihr letztes Buch veröffentlichte Helga Schubert vor knapp 20 Jahren. Im vergangenen Jahr gewann sie mit einem autobiografischen Text über die schmerzhafte Beziehung zu ihrer Mutter den Bachmann-Preis.
Die preisgekrönte Geschichte erzählt von einer Mutter, die von ihrer 1940 geborenen Tochter Dankbarkeit dafür verlangt, dass sie sie nicht abgetrieben hat. Oder dass sie das Kleinkind in den letzten Kriegswochen, als die Rote Armee näher rückte und die Familie floh, nicht einfach dem Feind überliess.
Der preisgekrönte Text ist die letzte Erzählung im nun erschienenen Erzählband «Vom Aufstehen». Die Autorin tastet sich darin assoziierend und suchend durch ihr Leben, in das sich die Historie der letzten acht Jahrzehnte eingeschrieben hat.
Dabei macht Helga Schubert auch die Umstände fassbar, die ganz anders waren als heute. Und sie zeigt, dass «in der Welt der Menschen nichts einfach gut oder böse ist».
Diese Einsicht, das schildert dieses lebenskluge Buch eindringlich, ist der Anfang davon, Frieden zu finden. Mit sich und mit der Welt – selbst dann, wenn grässliche Erinnerungen es als unmöglich erscheinen lassen.
Buchhinweis:
Helga Schubert. Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. dtv, 2021.
4/4/2021 • 42 minutes, 26 seconds
«Über Menschen» von Juli Zeh
Im Roman «Über Menschen» hält Juli Zeh als erste deutsche Literatin der coronageplagten Gesellschaft den Spiegel vor: Sie zeigt, wie unterschiedlich Leute auf Ausnahmesituationen reagieren. Luzia Stettler spricht mit Juli Zeh über militante Klimaschützer und naive Stadtflüchtige.
Robert hat in Greta Thunberg eine Ikone gefunden: der Umwelt-Aktivist wird zunehmend militant. Als dann Corona kommt und die meisten Berufstätigen ins Homeoffice zwingt, hält es Freundin Dora mit diesem selbstgerechten Besserwisser unter einem Dach kaum noch aus. Genervt verlässt sie die gemeinsame Wohnung in Berlin-Kreuzberg und flieht aufs Land.
In Brandenburg hat sie schon vor dem Lockdown ein verlottertes Anwesen gekauft. Und während sie einerseits ihren Job als Werbetexterin erfüllt und ihre originellen Ideen via Zoom-Konferenzen darlegt, versucht sie andererseits, den verwilderten Garten mit der Hacke zu domestizieren. Aber das Unkraut ist nicht das einzige Übel, mit dem sie da in der Provinz draussen fertig werden muss.
Mit präziser Beobachtungsgabe und grossem psychologischem Gespür zeigt Juli Zeh, was die Verunsicherung in Pandemie-Zeiten mit Menschen macht. Die Stärke ihres Romans besteht genau darin, dass sie dabei voll der Kraft des Erzählens vertraut und nicht der Versuchung erliegt, eigene Meinungen abzugeben. Im Gegenteil: Ihr Buch macht Mut, Vorurteile loszulassen.
Buchhinweis:
Juli Zeh. Über Menschen. Luchterhand Verlag, 2021.
3/28/2021 • 44 minutes, 44 seconds
«Die nicht sterben» von Dana Grigorcea
In ihrem neuen Roman «Die nicht sterben» holt Dana Grigorcea Graf Dracula aus der Gruft und entdeckt allerlei Vamprisches im postkommunistischen Rumänien.
Dana Grigorcea ist eines der «Kommunistenkinder», von denen in ihrem neuen Roman «Die nicht sterben» die Rede ist. 1979 in Bukarest geboren, fiel ihre Kindheit noch in die bleierne Endzeit des Ceausescu-Regimes. Die damalige Sprach- und Geschichtslosigkeit verschwand nicht einfach mit der politischen Wende.
Auch der Vampirismus verschwand nicht mit dem Ende des blutrünstigen Diktators Nicolae Ceausescu, der sein Volk ausgesaugt hatte. Neue politische Vampire traten auf, die sich als gute Patrioten sahen und krampfhaft versuchten, grosse Traditionen und mythische Gestalten auszugraben. Unter anderem auch den mit Transsilvanien verbundenen Dracula-Mythos. Der Tourismusminister höchstpersönlich plante einen gigantischen Dracula-Park, der mit viel Korruption und zwielichtigem Geschäftsgebaren realisiert werden sollte, aber schliesslich am Widerstand aus der Bevölkerung scheiterte.
Von diesem Vampirismus und dem Weiterleben der vielen Untoten in Rumänien erzählt der Roman «Die nicht sterben» von Dana Grigorcea sehr spannungsvoll und mit poetischer Kraft. Sie zeigt, was mit einer Gesellschaft geschieht, die lieber schlechte Geister der Vergangenheit weckt, als sich der Gegenwart zu stellen. Insofern ist es ein Roman, der weit über Rumänien hinaus aktuell ist.
Buchhinweis:
Dana Grigorcea. Die nicht sterben. Penguin Verlag, 2021.
3/21/2021 • 43 minutes, 29 seconds
«Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie» von Carolin Emcke
Als Donald Trump gewählt wurde, schrieb die Philosophin und Publizistin Carolin Emcke zum ersten Mal Tagebuch. Als Corona ausbrach, nahm sie den Faden wieder auf. «Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie» ist berührender Rückblick auf ein bewegtes Jahr und Denkanstoss für eine ungewisse Zukunft.
Wird uns das Virus in ein dystopisches Dasein stürzen? Oder wird es uns anspornen, das Beste aus uns herausholen? Wird sich unser Blick auf die Welt weiten? Oder igeln wir uns noch mehr ein? Werden wir zu mehr Verantwortung finden? Oder werden wir, «wenn das da vorbei ist», hedonistischer und rücksichtsloser leben denn je?
Carolin Emcke veröffentlichte ihr Tagebuch zuerst in Form von Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung, vom 23. März bis zum 29. Mai 2020. Im November 2020 versah sie es mit einem ausführlichen Postskriptum. Zusammengenommen bilden die Einträge einen Fundus an Fragen, die uns noch lange beschäftigen werden.
Carolin Emcke im Gespräch mit Franziska Hirsbrunner im Rahmen des SRF-Kultur-Programmschwerpunkts «Mutig in die Zukunft – Geschichten vom Gelingen».
Buchhinweis:
Carolin Emcke. Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie. S. Fischer Verlag, 2021.
3/14/2021 • 41 minutes, 49 seconds
«Die Eroberung Amerikas» von Franzobel
Im Roman «Die Eroberung Amerikas» begibt sich Franzobel auf die Spuren des erfolglosesten Konquistadors überhaupt: Hernando de Soto, dessen Florida-Expedition ein einziges Debakel war. Ein Gespräch mit dem österreichischen Autor über europäische Eroberung, indigenes Leid und deren Folgen.
Am Schluss bleibt nur noch Depression. Der spanische Eroberer Hernando de Soto sitzt in seinem Zelt am Mississippi und versinkt in Eifersucht wegen einer Frau, die er nie geliebt hat. Seine Mannschaft, einst achthundert gut ausgerüsteter spanischer Haudegen, ist auf ein Viertel geschrumpft, und das, was davon übrig ist, befindet sich in erbärmlichem Zustand. Kaiser Karl des Fünften Florida-Expedition, dessen Anführer der stolze und mächtige Hernando de Soto gewesen und dessen Ziel das legendäre Eldorado gewesen ist, ist gescheitert. Zurück bleibt eine Spur der Verwüstung und die Leichen unzähliger indigener Menschen im Gebiet der heutigen Südstaaten.
Auf 550 Seiten erzählt der österreichische Schriftsteller Franzobel vom Scheitern de Sotos und von der Epoche des 16. Jahrhunderts, die er als die brutalste und blutigste überhaupt betrachtet. Er verbindet die Zeit der Eroberungen mit der heutigen Zeit, indem er einen Erzählstil entwickelt, der immer vom Heute ausgeht. Und er wandelt dabei auf dem schmalen Grat zwischen beissendem Humor und abgrundtiefen Entsetzen über eine Brutalität und Menschenverachtung, die in der langen und blutigen Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht.
Buchhinweis:
Franzobel. Die Eroberung Amerikas. Zsolnay Verlag, 2021.
3/7/2021 • 50 minutes, 49 seconds
«Hard Land» von Benedict Wells
Freundschaft, Liebe, Tod – in «Hard Land» erzählt der deutsch-schweizerische Autor Benedict Wells subtil von einem Teenager, der während eines Sommers geballt mit der Wucht des Lebens konfrontiert wird. Und dadurch mit sich selbst. Der Erfolgsautor ist zu Gast bei Felix Münger.
Benedict Wells letzter Roman «Vom Ende der Einsamkeit» stand über lange Zeit auf den Bestsellerlisten. Wells nunmehr fünfter Roman «Hard Land» erzählt erneut von existenziellen Erfahrungen, und wie diese uns prägen.
Im Zentrum steht der Mitte der 1980er Jahre in einem verschlafenen Nest in Missouri lebende fünfzehnjährige Sam. Er erzählt, wie er während «des schönsten und schrecklichsten Sommers» seines Lebens erstmals echte Freunde findet, sich verliebt und gleichzeitig die Erfahrung des Todes macht.
In diesem gekonnt erzählten Coming-of-Age-Roman macht sich Benedict Wells auf die Suche nach dem Lebensgefühl der 1980er. Gleichzeitig zeichnet er feinfühlig die zeitlose emotionale Ambivalenz des Erwachsenwerdens nach.
Im Gespräch erzählt Benedict Wells, was ihn am Genre des Coming-of-Age-Romans gereizt hat. Und warum er 36 werden musste, um sich der Pubertät literarisch zu nähern.
Buchhinweis:
Benedict Wells. Hard Land. Diogenes, 2021.
2/28/2021 • 40 minutes, 25 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Benedict Wells
Felix Münger unterhält sich mit Benedict Wells darüber, weshalb er sich erst mit 36 Jahren traut, einen Roman zum Thema Pubertät herauszugeben.
Buchhinweis:
Benedict Wells. Hard Land. Diogenes, 2021.
2/26/2021 • 12 minutes, 16 seconds
«Señor Herreras blühende Intuition» von Linus Reichlin
Der perfekte Roman für Homeoffice-Geplage: «Señor Herreras blühende Intuition» handelt vom Kampf gegen mangelnde Bewegung, schlechtes Essen und alternative Wirklichkeiten.
Linus Reichlins neuer Held ist Schriftsteller mit Herzproblemen: Um den Puls herunterzubringen, zieht er sich in ein abgelegenes Kloster in Andalusien zurück. Zur Ruhe und zum Yoga kommt er kaum. Denn seine blühende Fantasie spielt ihm übel mit.
Anders als der wahre Don Quijote von Cervantes trifft Reichlins moderner Don Quijote nicht auf einen Sancho Pansa, der Wahrheit und blosse Einbildung auseinanderzuhalten weiss. Reichlins Don Quijote trifft vielmehr auf einen anderen Don Quijote, nämlich den Klosterkoch Herrera, ausgestattet mit ebenso blühender Einbildungskraft. Die beiden Don Quijotes schaukeln sich gegenseitig hoch, sehen überall Killer und eine Frau, die angeblich nur ein Zeugenschutzprogramm ins Nonnengewand gezwungen hat.
Mit abgründiger Komik geht Linus Reichlin in seinem neuen Roman «Señor Herreras blühende Intuition» der Frage nach, ob man sein Leben wirklich ändern kann oder ob das Leben einen ändert. Ein Roman, turbulent, schräg und poetisch wie ein Film von Pedro Almodóvar.
Buchhinweis:
Linus Reichlin. Señor Herreras blühende Intuition. Verlag Galiani, 2021.
2/21/2021 • 43 minutes
«Untertags» von Urs Faes
Im Roman «Untertags» erfahren Herta und Jakov noch ein spätes Glück. Aber als Jakov zunehmend die Sprache verliert und nachts wiederholt einen Frauennamen flüstert, wird Herta argwöhnisch. Luzia Stettler spricht mit Urs Faes über die Angst vor dem Vergessen und die Macht von Verdrängtem.
Urs Faes ist ein Meister der Zwischentöne: immer wieder lotet er in seinen Romanen Paarbeziehungen aus, spürt den subtilen Veränderungen im Miteinander nach und findet Worte für das Nicht-Gesagte. Auch versteht er es hervorragend, literarisch die Folgen einer Krankheit erfahrbar zu machen – sei es für die Betroffenen wie auch für deren Umfeld.
Im Roman «Untertags» lernt die alleinerziehende Mutter Herta, 42, zufällig auf dem Frankfurter Flughafen den geschiedenen Amerikaner Jakov, 58, kennen, einen «zierlichen Cowboy», wie sie ihn nennt. Aus einem «coup de foudre» wird für Herta die grosse Liebe ihres Lebens; und sie wundert sich höchstens, wie wenig Jakov von früher erzählt.
Nach erfüllenden, gemeinsamen Jahren beginnt sich Jakov zu verändern: er wird immer vergesslicher. Und plötzlich scheint aus seinem Unterbewusstsein die Vergangenheit aufzustossen: eine «Virginie» dominiert seine Seele. War Herta also für ihn doch nur ein Trost im Alter? Urs Faes erzählt von Annäherung und Entfremdung und von den Mechanismen eines Hirns, das nachlässt.
Buchhinweis:
Urs Faes. Untertags. Suhrkamp, 2020.
2/14/2021 • 41 minutes, 36 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Urs Faes
Luzia Stettler spricht mit Urs Faes über das Glück einer späten Liebe , die Angst vor dem Verlust von Sprache und der Kraft von Verdrängtem.
Buchhinweis:
Urs Faes. Untertags. Suhrkamp, 2021.
2/12/2021 • 12 minutes, 49 seconds
«Die Erfindung des Ungehorsams» von Martina Clavadetscher
Frauenkörper ohne Makel: Zu Hunderten baumeln sie an Haken in einer Fabrikhalle. Es sind Sexpuppen. Wer hat sie programmiert? Was geht in ihren Köpfen vor? Die Schweizer Autorin Martina Clavadetscher erzählt, was sie an menschenähnlichen Puppen fasziniert und was es mit dem Ungehorsam auf sich hat.
Halbschwester Ling arbeitet in einer Fabrik, die Sexpuppen herstellt. Auf ihrer Werkbank liegen frisch gegossene Leiber, noch ohne Kopf. Sie tastet die nackten Körper nach Fehlern ab. Bevor sie sie anfasst, spricht sie mit ihnen: «Hallo, mein Name ist Ling. Hab keine Angst. Ich mache dich makellos.» Doch wer ist Ling? Und warum nennt sie sich Halbschwester? Wo sind die anderen Schwestern? Und warum weiss sie nichts über ihre Herkunft?
In Martina Clavadetschers Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» geht es um künstliche Intelligenz, um sehr menschenähnliche Roboter. Und da stellen sich Fragen wie: Was ist künstlich und was ist echt? Und was wäre, wenn sich künstlich und echt vermischen? Also: Gibt es künstliches Hirn in menschlichem Körper oder umgekehrt, menschliches Hirn in einem künstlichen Körper? Und wo passiert der Zeugungsakt? Martina Clavadetscher geht diesen Fragen nach. Sie erzählt von drei Frauen aus unterschiedlichen Zeiten, die aber durch etwas Geheimnisvolles verbunden sind. Am Anfang steht Ada Lovelace, die Tochter des Dichters Lord Byron. Sie ist Mathematikerin und gilt als Pionierin der Programmiersprache und sie ist fasziniert von Maschinen-Puppen. Ada ist eine Visionärin des digitalen Zeitalters, aber als Frau im falschen Jahrhundert geboren.
Buchhinweis:
Martina Clavadetscher. Die Erfindung des Ungehorsams. Unionsverlag, 2021.
2/7/2021 • 41 minutes, 15 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Martina Clavadetscher
Esther Schneider spricht mit Martina Clavadetscher über menschenähnliche Puppen und was es bedeutet, wenn man ihnen Eigensinn und Ungehorsam einprogrammiert.
Buchhinweis:
Martina Clavadetscher. Die Erfindung des Ungehorsams. Unionsverlag, 2021.
2/5/2021 • 15 minutes, 2 seconds
«DAVE» von Raphaela Edelbauer
Die künstliche Intelligenz durchdringt unseren Alltag. Die junge Österreicherin Raphaela Edelbauer schildert in ihrem fantastischen Roman «DAVE» eine Gesellschaft, welche die erste perfekte Menschmaschine programmiert – und dabei Abgründe aufreisst. Die Autorin ist zu Gast bei Felix Münger.
Der Roman schildert eine dystopische Zukunftsgesellschaft, die in einem gigantischen Betonkubus lebt. Nur hier ist menschliches Leben noch möglich. Der Planet ist zerstört.
Das Ziel der Menschen im Kubus ist es, einen Supercomputer mit Namen DAVE zu bauen. Diese erste generelle künstliche Intelligenz soll es aufgrund seiner gottähnlichen Eigenschaften den Menschen ermöglichen, die Erde dereinst wieder zu besiedeln.
Einer der Programmierer im Kubus wird allerdings zunehmend misstrauisch: Gerät DAVE tatsächlich zum Segen? Oder ist er nicht vielmehr ein Instrument totaler Herrschaft? Wie bewahren wir uns die Freiheit, die uns erst zu Menschen macht?
Raphaela Edelbauers Roman ist packend und rasant erzählt und stellt Grundfragen zu unserem Umgang mit der künstlichen Intelligenz.
Buchhinweis:
Raphaela Edelbauer: DAVE. Klett-Cotta, 2021.
1/31/2021 • 39 minutes, 37 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Raphaela Edelbauer
Felix Münger unterhält sich mit Raphaela Edelbauer darüber, weshalb eine mit künstlicher Intelligenz betriebene Menschmaschine eine gefährliche Illusion ist.
Buchhinweis:
Raphaela Edelbauer: DAVE. Klett-Cotta, 2021.
1/29/2021 • 13 minutes, 12 seconds
«Hotel der Schlaflosen» von Ralf Rothmann
In seinem neuen Erzählband «Hotel der Schlaflosen» legt der deutsche Autor Ralf Rothmann packende Wirklichkeitsausschnitte vor. Leitschnur der elf Erzählungen ist die Angst, die die Figuren in unterschiedlichsten Konstellationen, zu unterschiedlichsten Zeiten und an unterschiedlichsten Orten trifft.
Manchmal kommt die Angst auf leisen Pfoten daher, als unbestimmt bohrende Seelenpein, wenn etwa eine Frau in der fast leergeräumten Wohnung Notizen ihres Mannes liest und durch einen Anruf aufgeschreckt wird. Wo der Mann ist, und warum die Frau später selbst jemanden anruft, anonym, ohne etwas zu sagen, erfährt man nicht. Aber es liegt der Kummer eines verpassten Lebens über «Alle Julias!» und die Angst vor dem, was noch kommen möge.
Diffus und gleichzeitig sehr real ist die Angst auch in der Titelgeschichte «Hotel der Schlaflosen». Sie fokussiert auf eine Episode in der Sowjetunion, 1940, zu Zeiten der stalinistischen Säuberungen. Im Moskauer Butyrka-Gefängnis ist es zu eng geworden, die geheimen Exekutionen finden nun in einem Hotel statt – angeleitet von Wasili Blochin, einem eiskalten Massenmörder und kultivierten Sadisten. Bevor Blochin den grossen Schriftsteller Isaak Babel erschiesst, quält er ihn seelenruhig wie die Katze die Maus. Auch in dieser Erzählung scheint hinter der Angst die Frage auf, was es mit der Wirklichkeit auf sich habe und ob die Wahrheit - wie die Würde des Menschen - letztlich nicht doch unantastbar sei.
Mit Ralf Rothmann spricht Franziska Hirsbrunner.
Buchhinweis:
Ralf Rothmann. Hotel der Schlaflosen. Suhrkamp Verlag, 2020.
1/24/2021 • 32 minutes, 44 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Ralf Rothmann
Franziska Hirsbrunner spricht mit Ralf Rothmann darüber, warum Angst viel mehr ist als nur ein unangenehmes Gefühl und warum sich Kurzgeschichten besonders eignen, sie zu erforschen.
Buchhinweis:
Ralf Rothmann. Hotel der Schlaflosen. Suhrkamp Verlag, 2020.
1/22/2021 • 14 minutes, 59 seconds
«Die Schlange im Wolfspelz» von Michael Maar
Michael Maar vermisst in seinem Bestseller «Die Schlange im Wolfspelz» die Welt der Literatur: Ihm ist ein grossartiger Roman über grossartige Romane gelungen.
Im Hochgebirge des guten Stils ist die Luft dünn: Beim Erklären kommt man schnell ausser Atem. Nicht so der deutsche Schriftsteller und Essayist Michael Maar. Ihm gelingen da noch virtuoseste Verführungen: Das Buch »Die Schlange im Wolfspelz» ist die Summe eines Leser- und Autorenlebens: Wer selber schreibt, findet in Maar einen idealen Leser. Wer gerne liest, findet einen idealen Autor, der dem Geheimnis grosser Literatur so nahe kommt wie kaum jemand vor ihm.
Michael Maar nimmt an den Besten Mass, darunter sind auch viele Frauen, von Rahel Varnhagen bis Brigitte Kronauer, und er führt uns anschaulich vor Augen, was guter Stil ist: Guter Stil ist immer leicht schräg, knapp neben der Spur, kaum zu kopieren.
Buchhinweis:
Michael Maar. Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis grosser Literatur. Rowohlt Verlag, 2020.
1/17/2021 • 49 minutes, 13 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Michael Maar
Julian Schütt unterhält sich mit Michael Maar über das Geheimnis grosser Literatur und guten Stils.
Buchhinweis:
Michael Maar. Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis grosser Literatur. Rowohlt Verlag, 2020.
1/15/2021 • 10 minutes, 9 seconds
«Die Sommer» von Ronya Othmann
In ihrem Debütroman «Die Sommer» macht sich die junge Schriftstellerin Ronya Othmann auf die Suche nach einer Identität zwischen jesidisch-kurdischem Dorf und deutscher Diaspora. Ein Gespräch über Zerrissenheit und Ohnmacht und das dringende Bedürfnis, in Zeiten höchster Not etwas tun zu können.
Leyla ist die Tochter eines kurdisch-jesidischen Vaters und einer deutschen Mutter. Jeden Sommer reist sie mit ihrer Familie ins nordsyrische Heimatdorf ihres Vaters und besucht dort ihre jesidischen Grosseltern, die so ganz anders leben als sie selbst in ihrem behüteten Bayern. Sie kennt das Dorf, sie kennt seine Geschichte und sie weiss, wo die gepackten Koffer versteckt sind, falls die Bewohner wieder einmal fliehen müssen. Dann kommt die Revolution. Und die mündet in den Krieg. Jetzt sind keine Reisen mehr möglich. Und aus der Ferne muss Leyla zuschauen, wie der Genozid von 2014 ihre Familie bedroht. Wie lange hält man das aus? Und was muss sonst noch passieren, bis der Druck so gross wird, dass die stille Beobachterin zu handeln beginnt?
Im Gespräch mit Literaturredaktor Michael Luisier erzählt die Autorin von den Berührungspunkten ihrer eigenen Biografie mit der ihrer Heldin, von der Zerrissenheit eines Lebens zwischen zwei Kulturen unter extremen Bedingungen und von der Arbeit an einem existenziellen, gleichsam politischen wie persönlichen Debütroman.
Buchhinweis:
Ronya Othmann. Die Sommer. Hanser, 2020.
1/10/2021 • 40 minutes, 13 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Ronya Othmann
Michael Luisier unterhält sich mit Ronya Othmann über das Schicksal der Kurden und der Jesidinnen und über die Ohnmacht angesichts von Unrecht und Verfolgung.
Buchhinweis:
Ronya Othmann. Die Sommer. Hanser Verlag, 2020.
1/8/2021 • 13 minutes, 23 seconds
«Margherita» von Jana Revedin
«Margherita» erzählt die wahre Geschichte einer Zeitungsausträgerin, die 1920 zur First Lady Venedigs aufsteigt und mitwirkt, dass die Lagunenstadt zur Kulturmetropole wird. Im Gespräch mit Luzia Stettler erzählt Jana Revedin, warum sie die Nonna ihres Gatten zur Romanheldin gewählt hat.
Es tönt wie im Märchen: der adlige Graf Antonio Revedin verliebt sich in das charmante, aufgeweckte Mädchen, das ihm jeden Tag die Zeitung in seinen Palazzo bringt.
Und weil kurz nach Ende des 1. Weltkriegs sowieso viele gesellschaftliche Schranken gefallen sind, hält er kühn um ihre Hand an. So kommt Margherita in die einflussreichen Kreise von Venedig.
Gemeinsam mit ihrem Gatten gelingt es ihr, Venedig in den 20er Jahren touristisch breiter zu positionieren: Neu reisen die Gäste nicht nur zur Kur, sondern sie werden auch angelockt durch ein wachsendes Kultur- und Naturangebot. Im Hotel «Excelsior» oder in der «Harrys Bar» empfängt Margherita illustre Künstler, Mäzeninnen und Modeschöpfer aus der ganzen Welt: zu ihrem Freundeskreis gehören Pablo Picasso, Peggy Guggenheim, Clark Gable oder Coco Chanel.
Jana Revedin setzt mit «Margherita» nicht nur einer zu Unrecht vergessenen Frau ein literarisches Denkmal, sondern es gelingt ihr auch, in einer bildhaften Sprache die wechselvolle Entwicklung Venedigs im letzten Jahrhundert nachzuzeichnen. Kein Wunder kennt sie sich so gut in dieser Thematik aus: Von Beruf ist die Schriftstellerin auch Architektin und lehrt als ordentliche Professorin für Architektur und Städtebau in Paris.
Buchhinweis:
Jana Revedin. Margherita. Aufbau Verlag, 2020.
1/3/2021 • 44 minutes, 19 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Jana Revedin
Luzia Stettler spricht mit Jana Revedin über ein Venedig, das sich mehrfach neu erfindet und Margherita, die 1920 die Kunst der Avantgarde in die Stadt holte.
Buchhinweis:
Jana Revedin. Margherita. Aufbau Verlag, 2020.
1/1/2021 • 12 minutes, 59 seconds
Die Literaturperlen 2020 – unsere Auswahl
2020 war ein starker Literatur-Jahrgang. Einige Werke haben uns in besonderem Mass begeistert, aufgewühlt, zum Nachdenken gebracht. Die SRF-Literaturredaktion hat sechs herausragende Titel ausgewählt. Felix Münger präsentiert packende Ausschnitte aus den Gesprächen mit den Autorinnen und Autoren.
Die Auswahl der SRF-Literaturredaktion:
- Reto Hänny: Sturz. Das dritte Buch vom Flug. Matthes & Seitz, 2020.
- Nora Gomringer: gottesanbieterin. Voland & Quist, 2020.
- Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte. Hanser, 2020.
- Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir. Schöffling, 2020.
- Lutz Seiler: Stern 111, Suhrkamp, 2020.
- Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz, 2020.
12/27/2020 • 54 minutes, 2 seconds
«Zorn und Stille» von Sandra Gugic
Die Eltern kommen aus Serbien und haben in Wien ein besseres Leben gesucht, die Kinder finden keine Heimat, weder in sich selbst noch in der Welt. Sandra Gugic erzählt in «Zorn und Stille» packend von unscheinbarer, aber umso quälenderer Entfremdung.
«Zorn und Stille» ist der zweite Roman der 1976 in Wien geborenen und in Berlin lebenden Autorin. Der Titel wiederspiegelt die Dynamik des Buches – der heftige Wunsch nach Selbstbestimmung und die lastende Unmöglichkeit, ihn zu verwirklichen. Während die Eltern ihre Bedürfnisse hintanstellen, um ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen, brechen diese aus, ohne Boden unter die Füsse zu bekommen.
Die Tochter verlässt die Familie noch als Schülerin, in einer Zeit, als die Jugoslawienkriege die Verhältnisse zuhause zusätzlich zerrütten. Sie wird eine gefeierte Fotografin, aber bleibt auch in ihren Beziehungen heimatlos. Der Sohn ist durch den Kontaktabbruch so verstört wie die Eltern. Er verliert den Halt und verschwindet später spurlos auf einer Reise durch Serbien. Ein Satz aus einem Interview seiner Schwester begleitete ihn: «Es gibt einen Raum, in dem niemand im Besitz der Wahrheit ist und jeder das Recht hat, verstanden zu werden.»
Mit Sandra Gugic spricht Franziska Hirsbrunner.
Sandra Gugic. Zorn und Stille. Hoffmann und Campe Verlag, 2020.
12/20/2020 • 35 minutes, 33 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Sandra Gugic
Franziska Hirsbrunner spricht mit Sandra Gugic über Familienbande und darüber, ob und zu welchem Nutzen man sich neu erfinden kann.
Buchhinweis:
Sandra Gugic. Zorn und Stille. Hoffmann und Campe Verlag, 2020.
12/18/2020 • 11 minutes, 3 seconds
«Die Gespenster von Demmin» von Verena Kessler
Mai 1945: In der ostdeutschen Kleinstadt Demmin begehen gegen 1'000 Deutsche Suizid. Aus Furcht vor der anrückenden Roten Armee. Die Hamburger Autorin Verena Kessler thematisiert das wenig aufgearbeitete Grauen in ihrem Debütroman «Die Gespenster von Demmin». Sie ist zu Gast bei Felix Münger.
Der Roman spielt im Heute. Noch immer liegt das Geschehen von damals wie ein bleiernes Gespenst über dem Ort. Die Stärke des Buchs besteht darin, dass es literarisch überzeugend zeigt, wie die dunkle Vergangenheit das Leben der Menschen bis heute prägt.
Im Zentrum steht eine Teenagerin. Sie lebt im Demmin von heute. Sie arbeitet im Nebenjob auf dem Friedhof. Dort liegen in einem Massengrab die Toten von damals. Der Gedanke an sie irritiert das jugendliche Weltbild.
Der Horror von damals ist im Roman durch eine alte Dame dargestellt. Sie ist dem Massensuizid 1945 mit knapper Not entkommen. Doch das Trauma überschattete danach ihr ganzes Leben.
Verena Kessler gelingt es, die Geschichten der beiden Frauen unaufdringlich miteinander in Beziehung zu setzen – die schwere historische Last mit der Leichtfüssigkeit des Teenager-Lebens.
Buchhinweis:
Verena Kessler. Die Gespenster von Demmin. Hanser Berlin, 2020.
12/13/2020 • 41 minutes, 51 seconds
«Die Bienen und das Unsichtbare» von Clemens J. Setz
Es gibt noch Welten zu entdecken. Clemens J. Setz entdeckt die der Plansprachen. Sechs Jahre hat er sich mit Esperanto, Volapük und Blissymbolic auseinandergesetzt und mit der Frage, warum man Kunstsprachen erfindet. Ein Gespräch mit Clemens J. Setz über sein Buch «Die Bienen und das Unsichtbare».
«Die Bienen und das Unsichtbare» ist eine schier unendliche Reise durch die Geschichte der Plansprachen. Da gibt es das bekannte Esperanto zu entdecken, die erfolgreichste aller erfundenen Sprachen, die für Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Völkern sorgen soll. Es gibt Blissymbolics, eine Symbolsprache, die tausenden von behinderten Menschen eine neue Perspektive geboten hat, und es gibt unzählige weitere, wenig bis gar nicht bekannte Plansprachen, wie beispielsweise Talossanisch, die Sprache eines fiktiven Königreiches im Kinderzimmer eines 14-jährigen in Milwaukee. Sechs Jahre lang hat sich Clemens J. Setz mit diesen Sprachen auseinandergesetzt, hat Volapük gelernt und andere Plansprachen zumindest in Grundzügen erfasst, hat Gedichte aus ihnen übersetzt und die Lebensgeschichten derer gesammelt, die für diese Sprachen stehen. Entstanden ist eine wie er sagt «verkleidete Anthologie der Plansprache», die allerdings genauso viel über den Autor selbst erzählt wie über sein Thema.
Buchhinweis:
Clemens J. Setz. Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp, 2020.
12/6/2020 • 38 minutes, 59 seconds
«Fünf Jahreszeiten» von Meral Kureyshi
Von einer jungen Generation, der Neuanfangen schwerfällt oder schwer gemacht wird, erzählt Meral Kureyshi im Roman «Fünf Jahreszeiten». Die Schweizer Autorin ist zu Gast bei Julian Schütt.
Die junge Erzählerin ist hin und her gerissen zwischen ihrem Freund und ihrem Geliebten, zwischen der Hoffnung, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen und der Resignation, weil sie Schulden abbauen muss, die ihr verstorbener Vater hinterlassen hat.
Daraus zieht sie für sich den Schluss, es wäre besser nichts zu hinterlassen, «nichts zu bewegen, in keiner Erinnerung festzustecken. Das Leben dafür zu nutzen, sich von allem zu lösen, zu entfernen». Die Erzählerin hätte die Chance, mit ihrem Geliebten, der ein Kunststipendium gewonnen hat, ein neues Leben in der Fremde anzufangen. Aber im letzten Moment, schon auf dem Flughafen, entscheidet sie sich, bei ihrem alten Freund zu bleiben und ihren Job als Aufseherin im Kunstmuseum weiter zu führen, damit sie die Schulden zurückzahlen kann.
Meral Kureyshi zeichnet ein subtiles Porträt einer jungen Generation, die sich zwar als «Eintagsfliegen» sieht, aber dennoch Verantwortung übernimmt und alles andere als leichtfertig durchs Leben geht.
Buchhinweis:
Meral Kureyshi. Fünf Jahreszeiten. Limmat Verlag, 2020.
11/29/2020 • 41 minutes, 5 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Meral Kureyshi
Julian Schütt unterhält sich mit Meral Kureyshi über Liebe, Freundschaft und Eintagsfliegen.
Buchhinweis:
Meral Kureyshi. Fünf Jahreszeiten. Limmat Verlag, 2020.
11/27/2020 • 11 minutes, 15 seconds
«Herzfaden» von Thomas Hettche
Im Roman «Herzfaden» erzählt Thomas Hettche von der Magie der Augsburger Puppenkiste und blendet zurück in deren Anfänge kurz nach dem 2. Weltkrieg. Im Gespräch mit Luzia Stettler erzählt der deutsche Autor, warum dieser Stoff nach der Form eines Märchens verlangte.
Generationen sind mit Kater Mikesch, Urmel oder Lukas der Lokomotivführer aufgewachsen. Und niemand störte sich daran, dass die Holzfiguren an sichtbaren Fäden hingen und das Meer offensichtlich nur eine glitzernde Folie war. Im Gegenteil: Die am Fernsehen gezeigten Aufführungen der Augsburger Puppenkiste waren Kult.
Thomas Hettche vergleicht auch die Arbeit an diesem Roman mit einem Marionettenspiel: einerseits erzählt er die Entstehungsgeschichte dieser Institution; andererseits lässt er uns ein kleines Mädchen begleiten, das durch eine verborgene Tür an einen Ort gelangt, wo sich die legendären Holzpuppen und ihre Schnitzerin Hatü versammeln.
Geschickt spielt der Autor abwechselnd mit dem historischen und dem poetischen Faden – und folgt damit einem alten Prinzip: Schon der Gründer der Augsburger Puppenkiste habe stets betont, der Herzfaden sei der wichtigste Faden einer Marionette, «denn er macht uns glauben, sie sei lebendig, weil er am Herzen der Zuschauer festgemacht ist.»
Kein Wunder hat es Thomas Hettche mit diesem märchenhaften, poetischen und politisch hochinteressanten Roman auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft.
Buchhinweis:
Thomas Hettche. Herzfaden. Kiepenheuer & Witsch, 2020.
11/22/2020 • 41 minutes, 51 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Thomas Hettche
Luzia Stettler spricht mit Thomas Hettche über die Magie der Augsburger Puppenkiste und wie dieses Theater Jugendlichen nach dem Krieg einen neuen Sinn gab.
Buchhinweis:
Thomas Hettche. Herzfaden. Kiepenheuer & Witsch, 2020.
11/20/2020 • 12 minutes, 36 seconds
«Streulicht» von Deniz Ohde
Eine Kindheit und Jugend auf unsicherem Gelände: die Ich-Erzählerin in Deniz Ohdes Debüt «Streulicht» wächst mit den Emissionen eines Chemiekonzerns bei Frankfurt a.M. auf und wird von Kindern wie Erwachsenen ausgegrenzt, weil sie eine türkische Mutter hat. Deniz Ohde ist Gast in «52 Beste Bücher».
«Streulicht» spielt in den 1990er und 2000er Jahren und wirkt doch archaisch, eingehüllt in einen zeitlosen Schicksalsnebel. Mitten in Deutschland geht es um Verhältnisse, wie sie es selten in Romane schaffen: Armut, Einschränkung, Missachtung, grundiert von offenem und verstecktem Rassismus.
Deniz Ohde erzählt von einem Leben, das trotz aller Bemühungen lange nicht gelingen will. Es ist eingesponnen in Sprachlosigkeit und eine Unwissenheit, «die weit hineinreichte in meine Vergangenheit, weit über den Zeitpunkt meiner Geburt hinaus». Das Prekäre hat tiefe Wurzeln, gerade auch im Privaten. Der Vater kompensiert verpasstes Leben so hartnäckig wie unzulänglich. Die Mutter schweigt selbst zu den gröbsten Zeichen von Rassismus. Dazwischen ein Kind, das selten weiss, wie ihm geschieht und doch seismographisch genau wahrnimmt. Ein packender Coming-of-Age-Roman.
Mit Deniz Ohde spricht Franziska Hirsbrunner.
Buchhinweis:
Deniz Ohde. Streulicht. Suhrkamp, 2020.
11/15/2020 • 30 minutes, 4 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Deniz Ohde
Franziska Hirsbrunner spricht mit Deniz Ohde über blockierte Handlungsspielräume, die Schönheit von Industrieanlagen und den Fehler, Autorinnen mit ihren Figuren zu verwechseln.
Buchhinweis:
Deniz Ohde. Streulicht. Suhrkamp, 2020.
11/13/2020 • 14 minutes, 29 seconds
«Primitivo» von Pedro Lenz
«Zwöiedriissg Sanitärschlitze zuegmuuret»: Im neuen Mundartroman «Primitivo» geht Pedro Lenz auf den Bau. Es ist eine Hommage an die Saisonniers und die Geschichte einer Freundschaft unter Maurern. Pedro Lenz ist bei uns zu Gast und erzählt von seiner eigenen «Stifti» auf dem Bau in den 80er Jahren.
Charly macht eine Lehre als Maurer. Sein grosses Vorbild ist «Primitivo», ein älterer Gastarbeiter aus Spanien. Dieser zeigt ihm, was einen guten Maurer ausmacht und natürlich hat er auch sonst noch allerlei Lebensweisheiten auf Lager, über die Liebe, die Politik, das Geld und das Leben ganz allgemein. Doch dann geschieht ein Unfall auf dem Bau. Primitivo wird von einem Schalungselement erdrückt und stirbt.
Pedro Lenz siedelt die Geschichte Anfang der 80er Jahre im Oberaargau an, in der Gegend von Langenthal, wo er selber aufgewachsen ist. In seiner unverwechselbaren Sprache schildert er die Coming of Age Geschichte des Lehrlings Charly und seine Freundschaft zu dem älteren Maurerkollegen. Wie schon in den früheren Büchern schaut Lenz seinen Figuren aufs Maul, hier den Jugendlichen und den Bauarbeitern, und lässt sie im typischen Lenz-Stil «liire». So bezaubert auch im neuen Roman «Primitivo» der Soundtrack der Lenzschen Mundart.
Esther Schneider hat den Autor zum Gespräch eingeladen und sich mit ihm über das Schreiben in Mundart, die Zeit auf dem Bau und über die Sehnsucht der spanischen Gastarbeiter nach ihrer Heimat unterhalten.
Buchhinweis:
Pedro Lenz. Primitivo. Cosmos Verlag, 2020.
11/8/2020 • 41 minutes, 17 seconds
52 Beste Bücher kompakt: Mit Pedro Lenz
Esther Schneider unterhält sich mit Pedro Lenz über den Alltag auf dem Bau, den Wert der Arbeit und wie er über die Figur des spanischen Fremdarbeiters Primitivo Weltgeschichte in die Berner Provinz bringt.
Buchhinweis:
Pedro Lenz. Primitivo. Cosmos, 2020.
11/6/2020 • 15 minutes, 43 seconds
«das alles hier, jetzt» von Anna Stern
Der Verlust eines geliebten Menschen, die Trauer und der Weg aus der Leere – davon handelt «das alles hier, jetzt», der vierte Roman der jungen Schweizer Autorin Anna Stern. Das Werk besticht durch seine subtile Sprache und die originelle Form. Anna Stern ist zu Gast bei Felix Münger.
Eine Clique von jungen Erwachsenen, die seit der Kindheit eng befreundet sind, wird durch den plötzlichen Tod eines Mitglieds der Gruppe erschüttert. Die Hinterbliebenen verlieren ob der schmerzlichen Lücke jeglichen Halt. Was bleibt, sind einzig Erinnerungen an glückliche Erlebnisse in der Vergangenheit.
Anna Stern verleiht der stummen Trauer eine lyrisch-melodiöse Sprache. Formal geschickt verwebt sie Schilderungen der lähmenden Gegenwart mit Erinnerungen an die Vergangenheit.
Am Ende nimmt der Roman eine jähe Wendung: Die Gruppe bricht zu einem verrückten Road-Trip auf. Durch ihn versuchen die jungen Erwachsenen die Abgründe der Trauer zu überwinden und zu einer neuen Freiheit zurückzufinden.
Der Roman ist nominiert für den Schweizer Buchpreis, der am 8. November im Rahmen des Literaturfestivals «BuchBasel» verliehen wird.
Buchhinweis:
Anna Stern. das alles hier, jetzt. Elster & Salis, 2020.